Heft 21: Präzisionsmedizin – Chancen für Forschung und Therapie

Die medikamentöse onkologische Versorgung zeigt sich seit mehreren Jahren in einem grundlegenden Umbruch: weg von der ausschließlichen zytostatischen Chemotherapie, hin zu einer gezielten Attacke auf Angriffsziele in der Krebszelle samt ihren Abwehrmechanismen. In schneller Folge wurden und werden neue Medikamente zugelassen – allein seit 2011 über 100. Viele von ihnen beruhen auf neuen Wirkprinzipien, manche von ihnen sind in einem beschleunigten Verfahren zugelassen worden.

Viele dieser neuen Substanzen erhöhen die Überlebenschancen der Patienten, aber sie steigern auch die Herausforderungen an die behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Die erforderliche stadienassoziierte Behandlung, die Schwierigkeiten bei der Validierung prädiktiver Marker und die zumeist unbefriedigende Evidenzlage unmittelbar nach der Zulassung erfordern eine wissensgenerierende Medizin. Denn fehlende Langzeitergebnisse und Sicherheitsaspekte erschweren das ärztliche Handeln.

Doch dies verlangt eine ausreichend entwickelte Infrastruktur für die klinische Forschung ebenso, wie die systematische Generierung von Wissen aus der Versorgung – insbesondere Letzteres ist in Deutschland nicht hinreichend etabliert. Vor diesem Hintergrund diskutierten die Teilnehmer des 21. Frankfurter Forums unter dem Generaltitel „Präzisionsmedizin – Chancen für Forschung und Therapie“ die Beiträge der Referenten:

Professor Dr. med. Dr. h.c. mult. Volker Diehl, ehemaliger Direktor der Klinik I Innerer Medizin an der Universität Köln und Gründungsdirektor des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen, berichtet am Beispiel des Hodgkin Lymphoms, inwieweit die Präzisionsmedizin eine neue Ära für Arzt und Patient eingeläutet hat. Der Autor zeigt auf, wie evidenzbasierte moderne Medizin sinnvoll verknüpft werden kann mit integrativer Medizin. Zwar haben Radio-Chemotherapie-Strategien in den vergangenen Jahren sehr hohe Heilungsraten bei Hodgkin-Patienten erreicht. Gravierende akute und chronische toxische Nebenwirkungen dieser Strategie erfordern aber neue Konzepte der Behandlung. Prof. Diehl schildert, wie gezielte Chemotherapie mit Antikörper-Wirkstoff-Konstrukten (ADC) und neue Immuntherapien mit Checkpoint-Inhibitoren in Zukunft gleich wirksame, aber weniger toxische Therapiestrategien ermöglichen.

Professor Dr. med. Bernhard Wörmann, Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie und Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie an der Charité, beschreibt in seinem Beitrag den derzeitigen schnellen und durchgreifenden Fortschritt in der Onkologie. Durch die molekulare Diagnostik sind große Krankheitsentitäten wie das Lungenkarzinom in biologisch und klinisch distinkte Krankheitsbilder parzelliert worden. Dabei kann die Entdeckung krankheitsrelevanter genetischer Aberrationen als weitgehend abgeschlossen betrachtet werden. Aktuell findet die Phase der Translation in die Versorgung statt – in der Diagnostik und in der Therapie. Neue Arzneimittel und Arzneimittelkombinationen werden in bestehende Therapiealgorithmen integriert, andere herausgenommen. Parallel ändert sich auch die zielgerichtete Diagnostik. Angesichts der Dynamik der Entwicklung ist aus Sicht von Prof. Wörmann wichtig, sich über Regeln zu verständigen: Darüber, was wirksam, was nützlich – was für den individuellen Patienten sinnvoll ist.

Professor Dr. med. Christoph von Kalle, Dr. Georg Ralle und Florian Martius machen sich für eine „Vision Zero“ in der Onkologie stark. Rund 220.000 Menschen sterben jedes Jahr in Deutschland an Krebs. Doch diese Erkrankung wird nur mit einem Bruchteil der gesamten Gesundheitsaufwendungen in Deutschland bekämpft. Eine „Vision Zero“ in der Onkologie ist aus dem Straßenverkehr entlehnt. Dort wurde vor einigen Jahrzehnten bereits angesichts dauerhaft hoher Verkehrsopferzahlen das Ziel formuliert, jeder Verkehrstote sei einer zu viel. Bekannt ist bereits heute, dass mehr als ein Drittel der Krebsneuerkrankungen durch Prävention und Früherkennung vermieden werden könnten. Doch die Voraussetzungen, um dieses neue „Mindset“ in die Tat umzusetzen sind hoch: Ausreichende finanzielle Mittel und ein patientenzentriertes Gesundheitsdaten-Management, in dem Informationstechnologie und Medizin zusammenwachsen.

Dr. med. Iris Watermann und Professor Dr. med. Martin Reck, LungenClinic Großhansdorf, loten in ihrem Beitrag die Potenziale der personalisierten Therapie am Beispiel der Behandlung von Patienten mit Lungenkarzinom aus. Bisher ist die Prognose des Lungenkarzinoms mit einer Fünfjahresüberlebensrate von etwa 15 Prozent schlecht. Gegenwärtig vollzieht sich bei der Behandlung aber ein Paradigmenwechsel, der zu einer deutlichen Verbesserung der Überlebenszeit führt. Die Voraussetzungen, um Patienten die bestmögliche Therapie zu ermöglichen, setzen einen multidisziplinären Austausch, eine umfangreiche Diagnostik, die ausführliche Dokumentation sowie die Umsetzung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse voraus. Bisher würden Wissenschaftler in Deutschland noch zu häufig durch zeitraubende Genehmigungsprozesse an der Möglichkeit gehindert, an klinischen Studien teilzunehmen, betonen die Autoren.

PD Dr. med. Rachel Würstlein und Professor Dr. med. Nadia Harbeck, Brustzentrum, Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe und CCC München, Klinikum der Universität München, beschreiben in ihrem Beitrag, inwiefern die individualisierte Diagnostik und Therapie des Mammakarzinoms noch Hoffnung oder bereits Realität ist. Durch Individualisierung von Diagnostik und Therapie ist das Mammakarzinom bei über 75 Prozent der Frauen – und betroffenen Männern – inzwischen eine heilbare Erkrankung geworden. Dabei entscheiden prognostische und prädiktive Marker über die Möglichkeit der Vermeidung von Über- und Untertherapie bei der medikamentösen Therapie. Immer wichtiger werden zudem neue Kommunikationsformen auf Basis von e-Health für die Begleitung der Patienten – wie etwa für die Kontrolle der Adhärenz bei oralen Therapien. Individualisierte Prävention, Diagnostik und Therapien erfordern Experten aus vielen Bereichen – inklusive der Pflege – und damit eine bessere sektorübergreifende Versorgung.

Professor Dr. med. Stephan Schmitz, Geschäftsführender Gesellschafter des MVZ für Hämatologie und Onkologie Köln am Sachsenring, fragt in seinem Beitrag danach, wie die Translation in der Hämatologie und Onkologie organisiert werden sollte. Dabei muss Translation als bidirektionaler Prozess verstanden und organisiert werden: als klassischer Weg von der Forschung zur Anwendung am Patienten und zugleich als Erkenntnisgewinn aus der Regelversorgung für forschende Institutionen. Der starke Wissenszuwachs macht dabei neue Prozesse, Strukturen und Organisationsabläufe nötig. Dies gilt auch für die Förderung von Versorgungsstrukturen in der Onkologie, für die es bisher noch zu wenig Unterstützung gibt.

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Heft 21:
April 2020
Präzisionsmedizin – Chancen für Forschung und Therapie
Editorial:Trotz Rückschlägen in der Forschung besteht zu Defätismus kein Anlass
Dr. Regina Klakow-Franck, Prof. Dr. h.c. Herbert Rebscher, Prof. Dr. Volker Ulrich
Vortrag 1:       Eine neue Ära für Arzt und Patient am Beispiel des Hodgkin Lymphoms
Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Volker Diehl, Köln/Berlin
Vortrag 2:Individualisierte Diagnostik und Therapie in der Onkologie
Prof. Dr. med, Bernhard Wörmann, Charité Universitätsmedizin, Berlin
Vortrag 3:Vision Zero – oder: Jeder Krebstote ist einer zu viel
Prof. Dr. med. Christof  von Kalle, Berlin Institute of Health (BIH) und Charité Universitätsmedizin, Berlin
Vortrag 4:Personalisierte Therapie des Lungenkarzinoms – Wo stehen wir? Wo müssen wir hin?
Dr. rer. nat. Iris Watermann, German Center for Lung Research, Großhansdorf
Prof. Dr. med. Martin Reck, LungenClinic, Großhansdorf
Vortrag 5:Individualisierte Diagnostik und Therapie des Mammakarzinoms: Hoffnung oder Realität?
PPD Dr. med. Rachel Würstlein, Prof. Dr. med. Nadia Harbeck, Klinikum der Universität München
Vortrag 6:Wie soll die Translation in der Hämatologie und Onkologie organisiert werden?
Prof. Dr. med. Stephan Schmitz, MVZ für Hämatologie und Onkologie in Köln
Fazit:Der pharmakologische Fortschritt erfordert eine stärker wissensgenerierende Medizin
Dr.
phil. Florian Staeck

Heft 20: Perspektiven der Präzisionsmedizin

Der Einsatz von Big-Data-Anwendungen und Robotern im Gesundheitswesen, die mittels Künstlicher Intelligenz arbeiten, wirft völlig neue Fragen der Regulierung auf, verschärft aber auch bestehende Trends im Gesundheitswesen, so zum Beispiel hinsichtlich der Individualisierung von Risiken. Nötig sind daher Antworten auf politischer und gesellschaftlicher Ebene – beispielsweise im Sinne der Definition klarer Haftungsregeln. Daher bedarf der Einsatz solcher Systeme immer einer zuvor von Menschen gesteuerten Prüfung. Dafür sprachen sich Teilnehmer des 20. Frankfurter Forums aus, das am 26./27. April 2019 in Fulda unter dem Generaltitel „Big Data-Analysen – neue Perspektiven für Forschung, Diagnostik und Therapie?“ tagte.

Professor Dr. med. Stephan Sahm, Senckenbergisches Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Goethe-Universität Frankfurt, diskutiert in seinem Beitrag ethische Aspekte der Anwendung von Robotik und Künstlicher Intelligenz (KI) in der medizinischen Praxis. Denn für die Anwendung in der Pflege werden derzeit zahlreiche Robotersysteme getestet. Ebenso eröffnen selbstlernende Algorithmen neue Perspektiven für die Präzisionsmedizin, etwa bei der Analyse genetischer Informationen. Solche Anwendungen konfrontieren Pflege und Medizin mit neuen ethischen Herausforderungen. Grundsätzlich muss durch Algorithmen gebundene Autonomie von personaler Autonomie unterschieden werden. Diese Anschauung wird nicht in allen Kulturen geteilt. Basierend auf dem Verständnis personaler Autonomie lassen sich Prinzipien für die Entwicklung menschenzentrierter Robotik und KI ableiten. Die Europäische Union unternimmt derzeit Anstrengungen, diese Prinzipien als Voraussetzung der Entwicklung von Robotik und KI zu verankern. Unzweifelhaft kann die Beachtung ethischer Prinzipien nur durch ein supranationales Regelwerk sichergestellt werden. Doch hier kann Europa einen den Prinzipien des europäischen Gedankens angemessenen Weg finden, der über die EU hinaus Beachtung finden wird.

Professor Dr. jur. Stefan Huster, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Sozialrecht an der Ruhr-Universität Bochum und Geschäftsführender Direktor des dortigen Instituts für Sozial- und Gesundheitsrecht, diskutiert in seinem Beitrag ethische und juristische Aspekte des individualisierten Risikos – eine Folge der vermehrten Anwendung von Big Data und KI im Gesundheitswesen, die dazu führt, dass wir immer präzisere Informationen über individuelle Gesundheitsrisiken erhalten. Diese Individualisierung des Risikos lässt zum einen die Abgrenzung von Krankheit und Gesundheit brüchig werden, so dass sich die Frage stellt, ob und inwieweit die Versorgungssysteme auch präventive Leistungen zur Verhinderung des Risikoeintritts gewährleisten müssen. Zum anderen wird befürchtet, dass die Erkenntnisse über individuelle Risikoprofile das Modell der Krankenversicherung und ihren solidarischen Charakter gefährden.

Professor Dr. rer.pol. Volker Ulrich, Lehrstuhl für VWL III, insbesondere Finanzwissenschaft, Universität Bayreuth, erörtert in seinem Beitrag, ob angesichts der Fortschritte in der Onkologie der medizinische Fortschritt finanzierbar bleibt. Denn im Gesundheitswesen findet gegenwärtig eine Diskussion über die Hochpreisigkeit neuer Verfahren und Produkte statt. Insbesondere im Arzneimittelbereich hält sich hartnäckig eine Mondpreisdiskussion bei Arzneimittel-Innovationen. Darin werden die als viel zu hoch empfundenen Preise und Therapiekosten für neue Medikamente thematisiert und seitens der Kostenträger wird vor einer finanziellen Überforderung des GKV-Systems gewarnt. Der Beitrag diskutiert wettbewerbliche Instrumente und Regulierungsansätze, die wirksame Maßnahmen zur Steuerung und auch zur Begrenzung der Arzneimittelausgaben darstellen. Sie können miterklären, warum es trotz des Preisauftriebs bei neuen Medikamenten bislang nicht zu einer Kostenexplosion in der Arzneimittelversorgung gekommen ist. Die Frage nach der Finanzierbarkeit des medizinisch-technischen Fortschritts kann aus ökonomischer Perspektive eindeutig mit ja beantwortet werden.

Professor Dr. rer. nat. Eva Susanne Dietrich, Institut für evidenzbasierte Positionierung im Gesundheitswesen, debattiert in ihrem Beitrag die Frage, inwieweit eine Präzisionstherapie für jeden Krebspatienten als realistisches Versprechen oder als unrealistisches Ziel bezeichnet werden muss. Der Beitrag beschreibt den aktuellen sozialrechtlichen Rahmen und mögliche Probleme in der praktischen Implementierung einer Präzisionstherapie. Der noch geringe Umfang verfügbarer Evidenz, der weitgehend fehlende Zugang zu den erforderlichen Daten, ein Paradigmenwechsel in der Zulassung und Arzneimittelversorgung sowie eine mögliche Einschränkung der ärztlichen Autonomie stellen dabei besondere Herausforderungen dar. Viele unbeantwortete Frage stellen sich mit Blick auf künftig veränderte Zulassungsregularien: Wollen wir tatsächlich eine Verlagerung der Arzneimittelversorgung hin zu experimentellen Therapien? Akzeptieren wir sie nur als Ultima Ratio oder auch in der Routineversorgung? Schließlich ist auch unklar, inwieweit sich der ärztliche Ermessensspielraum künftig ändern wird: Wie viel Autonomie soll und darf der Arzt aufgeben?

Professor Dr. med. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Frage, welchen Beitrag Big Data in der Onkologie mit Blick auf eine biomarker-basierte Präzisionsmedizin leisten kann. Im letzten Jahrzehnt sind große Fortschritte in der molekulargenetischen Charakterisierung solider Tumore und hämatologischer Neoplasien durch die Anwendung innovativer Technologien erzielt worden. Gleichzeitig hat die Zahl zielgerichteter neuer Arzneimittel für die Behandlung von Krebserkrankungen deutlich zugenommen. Ergebnisse der bisher vorliegenden klinischen Studien zeigen, dass nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen derzeit für Therapien, die auf genomischen Analysen basieren, infrage kommen und davon profitieren. Der Artikel beschreibt den potenziellen Beitrag von Big Data für die Biomarker-basierte Präzisionstherapie und verdeutlicht anhand von drei Beispielen künftige Einsatzgebiete von Big Data in der Onkologie.

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Heft 20:
Oktober 2019
Perspektiven der Präzisionsmedizin
Editorial:     Präzisionsmedizin, Big Data, KI – auf der Suche nach der Versorgung der Zukunft
Dr. Regina Klakow-Frank, Prof. Dr. h. c. Herbert Rebscher, Prof. Dr. Volker Ulrich
Vortrag 1:Robotik, künstliche Intelligenz und medizinische Praxis – ethische Aspekteepression
Prof. Dr. med. Stephan Sahm, Goethe-Universität Frankfurt a. Main
Vortrag 2:Das individualisierte Risiko – juristische und ethische Aspekte
P
rof. Dr. jur. Stefan Huster, Ruhr-Universität Bochum
Vortrag 3:Fortschritte in der Onkologie – bleibt der medizinische Fortschritt finanzierbar?
Prof. Dr. rer. pol. Volker Ulrich, Universität Bayreuth
Vortrag 4:Präzisionstherapie für jeden Krebspatienten – realistisches Versprechen oder unrealistisches Ziel?
Prof. Dr .Eva Susanne Dietrich, Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Vortrag 5:Biomarker-basierte Präzisionsmedizin: Welchen Beitrag kann Big Data in der Onkologie leisten?
Prof. Dr. med. Wolf-Dieter Ludwig, Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, Berlin
Fazit:Stratifizierung, Big Data und KI: Eine Roadmap ist im Gesundheitswesen noch nicht in Sicht
Dr.
phil. Florian Staeck