Das Herbstforum 2022 (27. Frankfurter Forum) greift das Thema Forschungsförderung in der Medizin, das bereits im Frühjahrsforum 2022 diskutiert wurde, noch einmal auf und legt den Schwerpunkt auf die Kooperation der Forschungsförderung
Bei der Forschungsförderung in der Medizin ist über die Jahre hinweg ein intransparentes Geflecht mit unterschiedlichen Zielen, Interessen und Verantwortlichkeiten entstanden. Intransparenz bleibt dabei insbesondere das Nebeneinander von direkter staatlicher Forschung durch EU, Bund und Länder, den großen mit staatlichen Mitteln ausgestatteten Forschungsverbünden und Einrichtungen sowie den mit unterschiedlichen Perspektiven – Forschung oder Versorgung – fördernden Ministerien.
Es fehlt somit an einem transparenten und jederzeit öffentlichen Register, wer welche Vorhaben mit welchem Ziel und mit welchen Finanzvolumina unterstützt. Darauf haben die Autorinnen und Autoren in Heft 27 des Frankfurter Forums in unterschiedlichen Facetten hingewiesen, das unter dem Titel „Forschungsförderung in der Medizin: Zur Notwendigkeit eines koordinierten Vorgehens“ im Juni 2023 publiziert worden ist.
Eigentlich wäre die Koordination der Forschungsförderung auf unterschiedlichen Ebenen ein wichtiger Aspekt der medizinischen Entwicklung und des angestrebten Erfolgs. Denn dabei geht es nicht nur um die Entwicklung von neuen diagnostischen Verfahren, Therapieoptionen und technischen Unterstützungsmöglichkeiten. Koordination trägt auch dazu bei, Ziele zu definieren, Förderstrategien zu entwickeln und Forschungsrisiken zu minimieren. Schließlich hat eine koordinierte Finanzierung von Forschungsprojekten in der Medizin auch das Potenzial, die wissenschaftliche Infrastruktur zu stärken und die Ausbildung von jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu fördern.
Anlässe für eine stärker koordinierte Forschungsförderung gäbe es genug: So belegt Deutschland mittlerweile mit Blick auf die Zahl klinischer Studien weltweit inzwischen nur noch Platz 6. Die dezentralen Regelungen des föderalen deutschen System mit Ethikkommissionen und Datenschutzbehörden, die vieles doppelt prüfen und nicht selten auch unterschiedlich bewerten, gelten als zeitraubend und bürokratisch.
Geboten wären neue Strategien auch bei der Translation. Zwar fördern forschende Pharmaunternehmen einen Großteil der klinischen Studien in Universitätskliniken, doch es entsteht bei der Translation der Innovationen in die Patientenversorgung zu oft eine Lücke. Als praktikabler Ansatz gilt es dabei, Transfer und Translation aus dem universitären Verwaltungsbetrieb auszugliedern und Experten mit Managementerfahrung und eigenem Geld an den Förderprojekten zu beteiligen.
Unzureichende Koordinierung und die Intransparenz in der Förderlandschaft, so ein Fazit der Autoren in Heft 28, schaden nicht zuletzt dem eigentlichen Anliegen: Denn auf diese Weise wird das Ausmaß der tatsächlich geleisteten Forschungsförderung systematisch unterschätzt. Gebremst wird dadurch nicht zuletzt eine faktenbasierte Diskussion über so entstehende Werte und gesellschaftliche Wohlfahrt.
In Deutschland existiert zum Thema Forschungsförderung in der Medizin eine sehr heterogene Informationslage. Eine Gesamtschau über Koordination und Finanzierung der verschiedenen staatlichen und privaten Institutionen gibt es bislang nicht. So findet sich keine Übersicht, in welcher Höhe staatliche und private Mittel fließen, ob diese Mittel als direkte Geldzuflüsse oder über Anreizsetzungen indirekt erfolgen, ob eine Individual- oder eine Gruppenförderung bis hin zu einem Forschungsverbund vorliegt, ob es sich um eine Einmalzahlung handelt oder ob Folgeförderanträge gestellt werden können. Über diese fehlende Zusammenstellung hinaus gibt es weitere finanziell relevante Fragen: Wie verteilen sich Risiko und Erfolg auf die öffentlichen und privaten Kapitalgeber auf der einen und die Forschenden nach Abschaffung des Professorenprivilegs vor 20 Jahren auf der anderen Seite? Was zudem fehlt, ist die Gesamtschau des Volumens, die transparente Darstellung von Gebern und Nehmern und die „Erfolge“ der Förderprogramme und ihres Nutzens für die Gesellschaft.Vor diesem Hintergrund hat das Frankfurter Forum am 1./2. Juli 2022 folgende Vorträge gehört und diskutiert:
Prof. Dr. Rolf-Detlef Treede, seit 2021 Präsident der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizi-nischen Fachgesellschaften (AWMF), skizzierte die Herausforderungen in der Forschungsförderung, die aus Sicht der AWMF bewältigt werden müssen. So benötigten die Ersteller von Leitlinien eine erweiterte Evidenzbasis; hierzu gehöre vor allem eine größere Zahl von qualitativ hochwertigen klinischen Studien, unabhängig von Entwicklungsprojekten der Industrie für Zulassungsverfahren für den Marktzugang.Besonders wichtig sei die Förderung von hypothesengenerierender explorativer klinischer Forschung, damit Innovationsimpulse auch aus der Anwendung am Krankenbett kommen können. Gelingen könne dies allerdings nur, wenn unter anderem Clinician Scientists (klinisch tätige Ärztinnen und Ärzte) gefördert werden – insbesondere für patientenorientierte klinische Forschung und für neue Ansätze in der registerbasierten klinischen Forschung.
Prof. Dr. Thomas Schlegel, Kanzlei für Medizinrecht Prof. Schlegel Hohmann & Partner, beschäftigte sich in seinem Beitrag mit den Rahmenbedingungen für die Finanzierung von disruptiven Innovationen aus Sicht von Investoren und Innovatoren im Gesundheitswesen. Dazu werden die Auswirkungen von Digitalisierung und Personalisierung in der Medizin auf die Stakeholder sowie die regulatorischen Rahmenbedingungen beleuchtet. Der Beitrag zeigt vor allem auf, welchen Nachholbedarf Deutschland im Hinblick auf Venture Capital hat, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Dr. Yannic Nonnenmacher und Prof. Dr. Rolf Müller, Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland, heben hervor, dass die zunehmende Verbreitung antibiotika-resistenter Erreger die Entwicklung neuer Wirkstoffe unabdingbar mache. Dennoch erreichten seit Jahrzehnten kaum neue Produkte mit innovativen Wirkmechanismen den Markt. Hauptursache für diese Entwicklungslücke sei die mangelnde Wirtschaftlichkeit der Entwicklung antimikrobieller Wirkstoffe. Nötig sei daher eine Kombination aus Push und Pull Incentives, um die Transitionslücke zwischen akademischer Forschung und Wirkstoffentwicklung in der pharmazeutischen Industrie zu schließen.
Dr. Verena Heise, Freelance Open Science Consultant, Trainer und Researcher, beleuchtet anhand von Praxisbeispielen aus der COVID-19-Pandemie, inwiefern die Relevanz von Forschungsfragen, Belastbarkeit von Studienergebnissen und Transparenz von Studieninformationen in der akademischen Forschung eine wichtige Rolle für den Erfolg von Transition spielen. Forschungsförderer können durch gezielte Anreize oder Bedingungen, die an Forschungsförderung geknüpft sind, einen großen Einfluss auf diesen Prozess ausüben und somit zum Erfolg von Translation beitragen.
Prof. Dr. Julian Krüper, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Verfassungstheorie und Interdisziplinäre Rechtsforschung an der Ruhr-Universität Bochum, beschäftigt sich in seinem Beitrag mit rechtlichen Aspekten privater Forschungsförderung. Die Förderung medizinischer und pharmakologischer Forschung an Universitäten durch Unternehmen und andere Private könne für beide Seiten attraktiv sein. Sie unterliege indes Grenzen, die durch das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit gezogen werden und in Normen des Hochschulrechts, des Arbeitnehmererfindungsrechts und auch des Strafrechts konturiert werden. So bleibe Forschungsförderung rechtlich möglich und üblich. Indes seien die Einflussmöglichkeiten der Förderer begrenzt, ebenso die Möglichkeiten der Geförderten, sich objektiver Schranken des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit zu entledigen.
Das deutsche Gesundheitswesen hat durch die Corona-Pandemie einen ungeahnten Stresstest erfahren. Dabei wird für Deutschland oft ein positives Zwischenfazit gezogen: das Gesundheitswesen habe sich als leistungsfähig erwiesen und den Belastungen standgehalten, zusammen mit den Coronamaßnahmen in allen gesellschaftlichen Ebenen ergebe sich eine Mortalitätsrate, die zumeist niedriger ausfällt als in anderen europäischen Staaten.
Indes zeigen sich bei näherer Analyse eine Vielzahl von Schwachstellen, die teilweise auch über das Gesundheitswesen hinausgreifen. Dies betrifft die unzureichende Krisenerkennung, die nicht auf verlässliche digitale Werkzeuge gestützt war, die strukturelle und personelle Unterausstattung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes oder das defizitäre Monitoring des Pandemiegeschehens.
All dies wurde begleitet durch einen länderspezifischen Flickenteppich unterschiedlicher Regelungen, der es den Bürgern erschwerte nachzuvollziehen, ab welchem Schwellenwert welche Corona-Maßnahmen greifen. Bis heute sind zudem schwerwiegende ethische Fragen beispielsweise im Zusammenhang mit Besuchsverboten in Krankenhäusern oder Pflegeheimen nicht im Ansatz aufgearbeitet worden.
Im vorliegenden Heft widmen sich die Autorinnen und Autoren diesen Aspekten:
Professor Dr. mult. Eckhard Nagel, Dr. Michael Lauerer und Dennis Henzler vom Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth beschäftigen sich in ihrem Beitrag „Krisenmanagement: Regionale Kompetenzen, nationale Koordination, globale Verantwortung“ mit Handlungsoptionen für eine Stärkung der Resilienz von Gesundheitssystemen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass es einerseits darum gehen müsse, vernachlässigte regionale Strukturen im Gesundheitswesen zu stärken. Andererseits sollte ein Ineinandergreifen verschiedener Ebenen organisiert werden, bei denen sich spezifische Kompetenzen mit Autorität verbinden müsse. Der Grad der Handlungsfähigkeit administrativer Strukturen sei eine wichtige Komponente der gesellschaftlichen Resilienz. Keine übergeordnete logistische Strategie könne eine solche grundlegende Orientierung ersetzen.
Dr. Ute Teichert, bis Ende Januar 2022 Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst und seit Februar Leiterin der Abteilung 6 im Bundesgesundheitsministeriums, widmet sich in ihrem Beitrag „Bedeutung des ÖGD im Gesundheitswesen – aktuelle Situation und Zukunftsperspektiven“ der schlagartig veränderten Betrachtung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes im Zuge der Pandemie.
Unzureichende finanzielle und personelle Ressourcen sowie eine mangelhafte digitale Ausstattung der Gesundheitsämter als Folge jahrelanger Einsparungen seien offen zu Tage getreten. Der Mitte 2020 beschlossene „Pakt für den ÖGD“ mit einem Vier-Milliarden-Euro-Paket des Bundes habe die Chance eröffnet, die Situation vor allem in den Gesundheitsämtern vor Ort personell und strukturell zu verbessern. Bei der Umsetzung des Pakts müsse es darum gehen, den ÖGD mit seinem breiten Aufgabenspektrum materiell, qualitativ und ideell aufzuwerten, um damit seinem bevölkerungsmedizinischen Stellenwert auf Dauer gerecht zu werden.
Prof. Dr. Guido Noelle, Geschäftsführer der gevko, betont in seinem Beitrag „Krisenerkennung und -management durch digitale Unterstützungsprozesse“, dass Krisen in der Vergangenheit immer auch ein Katalysator für Innovationen und gesellschaftliche Veränderungen waren. Digitalisierung von Prozessen könne in der Prävention, Erkennung und Bewältigung von Krisen auf allen Ebenen eine wichtige Rolle spielen, bedürfe aber auch immer eines (analogen) Plan B. Weiterhin sei es für eine optimale Wissensschöpfung nötig, die einzelnen Maßnahmen zur Digitalisierung im zweiten Schritt in einen sinnvollen Kontext zu setzen. Dies sei sicher der längerfristige und schwierigere Teil der Aufgabe.
Prof. Dr. Volker Ulrich, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre III, insbesondere Finanzwissenschaft an der Universität Bayreuth, greift in seinem Beitrag „Versicherungsleistungen versus Öffentliche Aufgaben – Finanzierungskonsequenzen“ das Faktum auf, dass in der Corona-Pandemie immer mehr Steuermittel in die Systeme der sozialen Sicherung, insbesondere in die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und die soziale Pflegeversicherung (SPV) geflossen sind. Der Autor geht der Frage nach, inwieweit ordnungsökonomische Kriterien herangezogen werden können, um künftig klarer zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung zu unterscheiden. Für GKV und SPV ließen sich versicherungsfremde Leistungen nur schwierig abgrenzen mit der Konsequenz, dass dort Steuermittel für versicherungsfremde Leistungen bisher nicht zielgenau eingesetzt werden. Um willkürliche Finanzierungsentscheidungen zu vermeiden, sollten Politiker daher deutlicher als bisher ihr präferiertes Mischungsverhältnis aus Steuern und Beiträgen ordnungsökonomisch begründen.
Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit, geht in seinem Beitrag „Strukturen, Aufgaben und Prozesse eines krisenresilienten Gesundheitssystems“ der Frage nach, wie das Krisenmanagement von Bund und Ländern verbessern werden kann. Hierzu sei eine Neuordnung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern im Bereich der Gefahrenabwehr und des Katastrophenschutzes notwendig. Dies erfordere einen breiten politischen Konsens über die Parteigrenzen hinweg. Bei diesem Prozess müssten verpflichtend die Bundesländer und die kommunalen Spitzenverbände in die Entscheidungsprozesse und -strukturen auf der Bundesebene einbezogen werden. Nur mit modernen Versorgungsstrukturen und einer klaren Aufgabenverteilung zwischen den staatlichen Ebenen könne es gelingen, das Krisenmanagement für kommende Herausforderungen zu verbessern. Ein effizientes Monitoring der drohenden Gefahren sei dabei eine wichtige Voraussetzung.
Steht in Diskussionen immer jeweils nur ein Politikfeld im Fokus, dann kommt die Vernetzung des Gesundheitssystems mit viel weiter ausgreifenden Problemen wie der Umwelt-, Klima- oder auch der Finanzpolitik in der Regel nicht in den Blick. Entsprechend selten wird auch die Rolle des Gesundheitswesens als Reparaturinstanz von Problemen gesehen, die an ganz anderer Stelle entstanden sind. Hohe „Reparaturkosten“ mit Hilfe des Gesundheitssystems – seien sie etwa durch sozioökonomische Ungleichheiten oder Disparitäten im Hinblick auf Bildung oder Ernährung bedingt – werden stillschweigend gesellschaftlich akzeptiert und finanziert. Die Aufwendungen für Prävention und Vermeidung durch bessere Edukation fallen demgegenüber finanziell kaum ins Gewicht.
Angesichts dieser Ausgangslage hat das 24. Frankfurter Forum, das pandemiebedingt am 23./24. April 2021 ausschließlich online stattgefunden hat, einen viel größeren Problemhorizont im Vergleich zu früheren Tagungen in den Blick genommen. Unter dem Titel „Globale Krisen – Gemeinsames und Trennendes – Gesellschaftspolitische Herausforderungen“ wurde versucht, Aspekte der Vernetzung globaler Herausforderungen zu beleuchten. Die Reformbedarfe im Gesundheitssystem figurierten hier als ein Exempel für Herausforderungen. Antworten, so eine Erkenntnis der Tagung, müssen oftmals über sektorspezifische und nationalstaatliche Beschränkungen hinausgehen.
Prof. Dr. h.c. Herbert Rebscher, Institut für Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung, hebt in seinem Beitrag hervor, das tradierte ökonomische Anreizsystem belohne bisher das „Weiter so“. Dabei konzentriere man sich auf die Rettung, auf die Reparatur von Schäden, weniger aber auf die Vermeidung. Das aber sei teuer, unproduktiv, vergangenheitsorientiert und zerstöre Lebensgrundlagen der Zukunft. Geboten seien daher ordnungsökonomische Konzepte, die diese Widersprüche überwinden und ein neues Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft begründen. Dabei müsste der Staat vom rettenden „Investor der letzten Instanz“ zum zukunftsgestaltenden „Investor der ersten Instanz“ transformiert werden. Zu den großen Herausforderungen gehöre es in diesem Prozess, wie Nachhaltigkeit so politisch kommuniziert werden kann, dass sie Akzeptanz in Demokratien findet.
Dr. Gerhard Schick und Michael Peters von der Nichtregierungsorganisation FinanzwendeRecherche gehen in ihrem Beitrag der Frage nach, weshalb seit dem Abschied vom Goldstandard die Häufigkeit von Finanzkrisen gestiegen ist. Seit Beginn der Deregulierung der Finanzmärkte in den 1980er Jahren übe der Finanzmarkt zunehmend Einfluss auf die Realwirtschaft und andere nicht nach Marktprinzipien orientierte Bereiche der Gesellschaft aus. Neben dieser Finanzialisierung der Realwirtschaft habe auch die Geldpolitik zur Instabilität des Finanzsystems beigetragen. Diese Instabilität sei dadurch gekennzeichnet, dass Zentralbanken fortlaufend intervenieren müssen. Ein weiterer Erklärungsfaktor für die fehlende Resilienz des Finanzsystems seien hohe öffentliche und private Schulden sowie die ungleiche Verteilung von Vermögen. Vorschläge für einen resilienten Finanzmarkt – wie etwa eine Finanztransaktionssteuer oder die Einführung eines Trennbankensystems – lägen seit langem auf dem Tisch. Ein stabilerer Finanzmarkt sei nur dann möglich, wenn es gelinge, die Partikularinteressen auszubremsen, die von der Instabilität profitieren.
Prof. Dr. h.c. mult. Ernst Ulrich von Weizsäcker, 2012 bis 2018 Kopräsident des Club of Rome, beschreibt die Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten als den Übergang von der „Leeren Welt“ in die „Volle Welt“ – mit all ihren Konsequenzen für Umwelt und Klima. Eine Rückkehr aus dem „Anthropozän“, dem durch den Menschen geprägten neuen Zeitalter, sei nicht möglich. Die gefährlichste Entwicklung dieses neuen Zeitalters sei die globale Erwärmung. Die große Herausforderung bestehe darin, eine dramatische Entkoppelung des Wohlstandes von den Treihausgasemissionen herbeizuführen. Ein zentraler Hebel dafür sei die Verbesserung der Energie- und Ressourceneffizienz. Was dem Klimaschutz diene und technisch möglich sei, sollte in der Regel profitabel werden. Die bisher geläufige Formel, nur der Markt dürfe die Preise bestimmen, nicht aber der Staat, sei klimapolitisch und für den Fortschritt der Kreislaufwirtschaft inakzeptabel.
Dr. Dr. Klaus Piwernetz, Medimaxx Health Management, und Prof. Dr. Edmund Neugebauer, Medizinische Hochschule Brandenburg, betonen, die Corona-Pandemie habe im Sinne eines ungeplanten Stresstests gravierende Mängel des deutschen Gesundheitswesens aufgezeigt. Aus ihrer Sicht sind Sektorierung, Angebotsorientierung und Ökonomisierung als strukturelle und methodische Systemdefizite gesetzlich im Sozialgesetzbuch V verankert. Die Autoren werben daher für einen Strategiewechsel im Sinne einer Neuausrichtung des Gesundheitssystems am Patienten. Die Methoden der kybernetischen Systemtheorie könnten helfen, in einem funktional gegliederten Gesundheitssystem evidenzbasierte und bedarfsorientierte Anforderungen zu erfüllen. Wegleitend seien dafür die Schlüsselelemente Gesundheits- und Versorgungsziele, Patienten- und Bedarfsorientierung, Verantwortung und Transparenz.
Prof. Dr. Miriam Rehm, Juniorprofessorin für Sozioökonomie mit dem Schwerpunkt Emprische Ungleichheitsforschung an der Universität Duisburg-Essen, beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Frage, inwiefern Ungleichheit ein Treiber von Krisen ist und ob Krisen ein Treiber von Ungleichheit sind. Dabei argumentiert sie, dass insbesondere Ungleichheit bei den Vermögen eine unterbelichtete Dimension der Verteilung sei, die aber zentral sei für die Krisenanfälligkeit moderner Ökonomien. Rehm hebt hervor, die Ungleichheit bei Vermögen in Deutschland sei – anders als bei anderen verfügbaren Einkommen – im internationalen Vergleich sehr hoch. Hohe Ungleichheit werde durch bestimmte selbstverstärkende Mechanismen noch weiter verschärft, was zu einem Teufelskreis steigender Ungleichheit führen könne. Obwohl umstritten ist, ob historische Krisen die Ungleichheit erhöht haben, führt Rehm Belege dafür an, dass die COVID-19-Pandemie sozial Schwache besonders stark betroffen hat.
Prof. Dr. Bernhard Emunds, Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt/Main, hebt hervor, dass der Zugang zu Krisendiagnosen im Allgemeinen durch die Massenmedien vermittelt sei. Wer von „Krise“ redet, lenke damit kommunikativ den Fokus auf das Handeln, weniger aber auf das Reflektieren oder die Ursachen der Probleme. Desweiteren verweist Emunds darauf, dass die heutigen Gesellschaften stärker als früher von der Wirtschaft geprägt seien. Dabei sei das Moment der monetären Koordination von Handlungen in modernen Gesellschaften beinahe omnipräsent. In den letzten drei Jahrzehnten sei es zudem gewissermaßen flächendeckend zu einer Ökonomisierung sozialer und auch medizinischer Organisationen gekommen. Die ökologische Krise, die gesellschaftliche Sorgelücke und die Zunahme psychischer Erkrankungen von Beschäftigten verwiesen auf die Notwendigkeit, den Zugriff der kapitalistischen Ökonomie auf die Grundlagen des Lebens zu begrenzen.
Die Versorgungsforschung in Deutschland bleibt bisher hinter ihren Möglichkeiten zurück. Ein wesentlicher Grund dafür ist die unzureichend erschlossene digitale Infrastruktur im Gesundheitswesen. Zwar ist durch digitale Abrechnungsprozesse zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen längst ein großer digitaler Datenschatz entstanden. Doch dieser ist bislang der breiten Nutzung durch Versorgungsforscher entzogen. Bisher muss häufig auf Datenquellen aus dem Ausland zurückgegriffen werden, um patientenrelevante Informationen beispielsweise zur Modellierung von Versorgungsprozessen zu erhalten.
Zwischen den Hoffnungen auf eine datengestützte Versorgung sowie einer entsprechenden Versorgungsplanung und ihrer Umsetzung liegen noch viele nötige regulatorische Schritte des Verordnungs- und Gesetzgebers. Vor diesem Hintergrund hat sich das Frankfurter Forum, das Ende Oktober 2020 eigentlich in Fulda als Präsensveranstaltung stattfinden sollte, mit verschiedenen Facetten der Versorgungsforschung und der guten Versorgungsrealität beschäftigt. Die Tagung trug ursprünglich den Generaltitel „Versorgungsforschung auf dem Weg von der Theorie in die Praxis – Beispiele guter Versorgungsrealität“.
Professor Dr. Wolfgang Greiner und Dr. Julian Witte, Universität Bielefeld, skizzieren in ihrem Beitrag die künftige Rolle der Digitalisierung in der Versorgungsforschung. Sie werben dafür, nicht mehr auf die ideale, systemweite Lösung zur Digitalisierung von Prozessen zu warten, sondern sich ggf. auch mit pilothaften Schritten einer praktikablen und langfristig angemessenen Lösung zu nähern. GKV-Abrechnungsdaten nähmen unter den bereits vorhandenen Datenquellen einen besonderen Rang ein – sie würden schon heute etwa für die Evaluation von Projekten des Innovationsfonds genutzt. Daneben gebe es eine Vielzahl von Registern mit teilweise noch überschaubaren Patientenzahlen. Doch deren Potenzial für die Versorgungsforschung sei angesichts mangelnder Koordination, Kooperation und Zugänglichkeit dieser Register noch nicht annähernd ausgeschöpft. Greiner und Witte zeigen am Beispiel der Auswertung von stationären Abrechnungsdaten, dass die für die Erwachsenenbevölkerung im Frühjahr 2020 beobachtete „Corona-Delle“ auch die Krankenhausaufenthalte von Kindern und Jugendlichen betroffen hat.
Professor Dr. Ulrich Hegerl, Johann Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt am Main und Stiftung Deutsche Depressionshilfe, beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Suizidprävention und -assistenz auch im Lichte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020. Darin hatte das Gericht das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für verfassungswidrig erklärt. Studien zur Suizidprävention indes betonten übereinstimmend die zentrale Bedeutung psychiatrischer Erkrankungen als Ursache suizidaler Handlungen. Durch retrospektive Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass eine oder mehrere schwere Erkrankungen keine nennenswerte kausale Rolle bei Suiziden gespielt haben. Dies zeige die Gefahr auf, wenn Depression und Suizidalität vorschnell als vermeintlich nachvollziehbare Reaktionen auf bestehende körperliche Einschränkungen gesehen werden – und nicht als eigenständige, krankhafte Zustände. Vor diesem Hintergrund wertet Hegerl das Karlsruher Urteil kritisch: Zwar verbinde sich einerseits mit der „Normalisierung“ des Suizids die Hoffnung, dass sich mit der Entstigmatisierung auch das Hilfesuch-Verhalten suizidgefährdeter Menschen verändert, so dass ihre Chance steigt, professionelle Hilfe zu erhalten. Andererseits bestehe die Gefahr, dass der (assistierte) Suizid in Folge des Urteils zu einer offiziell geregelten Wahlmöglichkeit wird, die mit einem Rechtsanspruch verbrieft ist und so die Schwelle für suizidales Verhalten senke.
Professor Dr. Friedrich Köhler und Dr. Sandra Prescher, Arbeitsbereich kardiovaskuläre Telemedizin an der Charité, diskutieren in ihrem Beitrag die Potenziale des Telemonitorings als einer telemedizinischen Methode innerhalb der digitalen Kardiologie. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat am 17. Dezember 2020 das Telemonitoring bei Herzinsuffizienz als eigenständige Methode anerkannt und somit erstmals ein digitales Verfahren in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen. Da sich daraus für gesetzlich Versicherte ein grundsätzlicher Leistungsanspruch auf diese Versorgungsform ableite, ergäben sich durch den nun anstehenden Translationsprozess von der klinischen Studie hin zur Anwendung im Regelbetrieb besondere Herausforderungen. Denn die Betreuungskapazität der an den Studien beteiligten Telemedizinzentren (TMZ) lag bei maximal 500 parallel betreuten Patienten. Im G-BA-Beschluss wird aber ein Bedarf für Telemonitoring bei etwa bundesweit 200.000 Patienten angenommen. Eine mögliche Umsetzungsoption besteht für die Autoren darin, in telemedizinischen Netzwerken die Verknüpfung von kardiologischen Praxen mit einem überregionalem TMZ in einem Krankenhaus sicherzustellen, dass außerhalb der Praxiszeiten die Mitbetreuung von Notfällen übernimmt.
Professor Dr. Monika Kellerer, Ärztliche Direktorin der Klinik für Innere Medizin I am Marienhospital in Stuttgart, verhandelt in ihrem Beitrag die Frage, welche Bedürfnisse und Wünsche Patienten mit Diabetes haben. Die medizinische und gesundheitsökonomische Bedeutung dieser Erkrankung sei in Deutschland enorm, denn fast jeder fünfte Todesfall ist durch Folge- und Begleiterkrankungen wie Herzkreislauf-Erkrankungen mit Typ-2-Diabetes assoziiert. Doch obwohl diese chronische Erkrankung anhaltend den Alltag der davon Betroffenen prägt und deren gesundheitliche Lebensqualität deutlich verringert, fehlten in Deutschland bislang die gesamte Population umfassende Studien, die die Bedürfnisse und Wünsche insbesondere älterer Menschen mit Diabetes erfassen. Als Folge sähen Wissenschaftler die Bedürfnisse dieser Patienten bislang durch eine Tunnelperspektive. Dies sei umso irritierender, als nationale wie internationale Diabetes-Leitlinien die partizipative Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Patienten in den Fokus stellen. Dabei ließen Präferenzstudien aus unterschiedlichen Ländern erkennen, inwiefern sich Patientenwünsche von denen ihrer behandelnden Ärzte unterscheiden.
Professor Dr. Wolfgang Hoffmann und Professor Dr. Neeltje van den Berg, Universitätsmedizin Greifswald, beschreiben in ihrem Beitrag die großen Herausforderungen und die neuen Möglichkeiten der Versorgungsforschung in der Onkologie. Sie verweisen darauf, dass die Häufigkeit von Krebserkrankungen mit steigendem Alter zunehme. Zugleich litten immer mehr Krebspatienten unter einer oder mehreren zusätzlichen chronischen Erkrankungen. Zudem habe die veränderte Altersverteilung und Morbiditätsstruktur auch Auswirkungen auf die Therapieziele. Statt einer alleinigen Fokussierung beispielsweise auf das Fünfjahres-Überleben würden differenzierte, individuelle Therapieziele wie die Vermeidung von therapiebedingten Langzeitschäden oder patientenbezogene Ziele wie Symptomkontrolle, Lebensqualität oder psychische Gesundheit immer wichtiger. Diese Therapieziele erforderten eine ausreichende Evidenzbasis, die in vielen Fällen aber nicht allein durch randomisierte klinische Studien (RCT) gewonnen werden kann. Vor diesem Hintergrund müssten zunehmend andere Studiendesigns und Datengrundlagen herangezogen werden. Eine wichtige Grundlage dafür bildeten die klinischen Krebsregister. So könne auf Basis dieser Registerdaten die Wirksamkeit von Medikamenten, die in RCT nachgewiesen wurde, unter realen Versorgungsbedingungen untersucht werden.
Professor Dr. Jürgen Zerth, Wilhelm Löhe Hochschule in Fürth, skizziert in seinem Beitrag die Pflege von morgen und legt dabei einen Fokus auf den vermeintlichen Care-Mix zwischen Mensch und Pflegeroboter. Neue Pflegetechnologien würfen die Frage danach auf, welche methodischen Ansätze der Versorgungsforschung existieren, mit deren Hilfe sowohl die Auswahlentscheidung als auch die nachträglichen Implementierungsbedingungen einer neuen Pflegetechnologie in einer Technologieempfehlung abgebildet werden können. Denn die einfache Übertragung von Innovationsanalogien anderer Branchen auf die Implementierung von Pflegetechnologien gehe fehl. Technik sei im Kontext der Pflege eine spezifische Form der Assistenz – in personaler, organisatorischer oder technischer Hinsicht. Es sei verwunderlich, dass bisher Übersichtsarbeiten, die Akzeptanz-, Effektivitäts- und Effizienzaspekte digitaler Pflegetechnologien ausloten, spärlich gesät sind. Nur wenige Arbeiten hätten sich dagegen bisher mit Fragen der langfristigen Evidenz oder mit pflegerelevanten Outcome-Aspekten beschäftigt. Im Ergebnis sei die Bedeutung von Pflegetechnologien im Hinblick auf den Care- und Case-Mix in der Pflege auch gesundheitspolitisch noch wenig diskutiert.
Versorgungsforschung kann einen wichtigen Beitrag leisten, um Qualität, Sicherheit und Effizienz der Versorgung zu evaluieren. Dafür allerdings müssen die Ressourcen der Disziplin auf die Weiterentwicklung der Versorgung konzentriert werden. Das ist der zentrale Gestaltungsauftrag an die Vertragspartner, um einer wissensbasierten Versorgungspraxis näher zu kommen. Dies ist eine der zentralen Thesen der Referenten beim 22. Frankfurter Forum. Die ursprünglich am 17./18. April 2020 in Fulda geplante Präsenzveranstaltung, sollte unter dem Generaltitel stehen: „Versorgungsforschung – Grundlage für eine effiziente Planung, Organisation und Steuerung qualitätsgestützter Patientenversorgung“.
Professor Dr. Holger Pfaff, der das Zentrum Versorgungsforschung an der Universität zu Köln leitet, erläutert in seinem Beitrag, wie die Versorgungsforschung als Wissenschaft unterschiedliche Wissenschaftsgebiete zur Analyse und Lösung konkreter Versorgungsprobleme integriert. Sie greift dabei auf ein breites Methodenspektrum zurück, um die komplexe Versorgungsrealität abzubilden. Aus der Medizin leitet die Versorgungsforschung die konkreten Fragestellungen und ihren Anspruch auf evidenzbasiertes Vorgehen ab, aus den Sozialwissenschaften ihre methodischen Untersuchungsinstrumente und ihre Theorie.
In ihrer konkreten Arbeit gehen die Wissenschaftler von Grundannahmen über die Art der Zusammenhänge im Versorgungssystem aus, die linear oder aber komplexer Art sein können. Sie berücksichtigen dafür die verschiedenen Kontextebenen des Versorgungssystems mit ihren jeweiligen handlungsleitenden Regeln und Akteuren. Dies ist von Bedeutung, um zu erkennen, inwiefern die übergeordneten Interaktionssysteme – beispielsweise der Gesetzgeber, das Bundesgesundheitsministerium oder der Gemeinsame Bundesausschuss – den Handlungs- und Optionsrahmen der nachgeordneten Systeme prägen, und zwar bis auf die Ebene der Individuen, also der Interaktion zwischen dem einzelnen Patienten und seinem behandelnden Arzt.
Die Interaktionen in diesem „Maschinenraum der Versorgung“ sind nicht durch starre Systemlogiken geprägt, sondern Versorgungsforscher gehen immer davon aus, dass den Akteuren Raum für individuelle, „menschliche“ Entscheidungen bleibt. Individuen können auf allen Ebenen des Systems – vom Gesundheitssystem bis hin zu Arzt-Patienten-Interaktion – ihre Rollen gestalten und neu definieren. Es ist Teil der komplexen Aufgabe der Versorgungsforschung, diese individuellen und kollektiven Akteure einzeln und in ihrer Vernetzung im Hinblick auf die Auswirkungen auf die konkrete Versorgungsleistung zu untersuchen.
Professor Dr. Volker Ulrich, Ordinarius für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft an der Universität Bayreuth, erläutert, inwieweit die Gesundheitsökonomie innerhalb der Methodenvielfalt der Versorgungsforschung einen wichtigen Rang einnimmt – insbesondere bei der Überprüfung, ob eine zu Lasten der Krankenkassen abgerechnete Leistung gleichermaßen medizinisch notwendig, wirksam und wirtschaftlich ist. Seit vielen Jahren werden derartige Untersuchungen stark von der Diskussion darüber bestimmt, inwieweit die in einer klinischen Studie unter kontrollierten Bedingungen (RCT) gewonnenen Ergebnisse über die Wirksamkeit (Efficacy) etwa eines Arzneimittels ergänzt werden können durch Versorgungsdaten, die die reale Versorgungssituation der Patienten widerspiegeln. Dabei ist zu berücksichtigten, dass der ganz überwiegende Anteil von Patientendaten in Form von Real-World-Data (RWD) vorliegt, wohingegen der Anteil der Daten aus klinischen Studien nur mit etwa fünf Prozent angegeben wird.
Nach einer Phase der wissenschaftlichen Debatte, in der die Unterschiede zwischen RCT und RWD polarisierend herausgestellt wurden, widmet sich die Methodendiskussion immer stärker der Frage, inwieweit klar strukturierte Forschungsfragen, geeignete Studienarten und solide Datenanalyse so kombiniert werden können, dass aussagefähige Vergleiche von medizinischen Interventionen möglich sind. Ganz überwiegend Konsens in der Debatte besteht darüber, dass viel davon abhängigen wird, ob es gelingt, Versorgungsdaten strukturiert und in hoher Qualität zu erheben. Noch nicht abschließend beantwortet ist die Frage, in welchem Ausmaß RWD verlässliche Informationen zum Zusatznutzen medizinischer Interventionen generieren können.
Professor Dr. h.c. Herbert Rebscher, Leiter des Instituts für Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung, hebt die Versorgungsforschung als eine zentrale Aufgabe der systembeteiligten Akteure hervor. Denn diese sind verantwortlich für die Allokationsentscheidungen des Systems. Diese Verantwortung umfasst insbesondere auch die Rechenschaftspflicht für das Ergebnis und die gesundheitliche, medizinische und ökonomische Wirkung der verhandelten Lösungen.
Die Erfahrungen aus der Versorgungspraxis nutzbar zu machen, ist eine zentrale Herausforderung und überwindet einen blinden Fleck im Konzept der evidenzbasierten Medizin.
Da der Goldstandard der randomisierten kontrollierten Studie nicht bei jedem Untersuchungsgegenstand und Forschungssetting angewendet werden kann, beschäftigt sich die Versorgungsforschung kontinuierlich mit der Herausforderung, neue nachweisorientierte Studientypen auf möglichst hohem Evidenzniveau zu entwickeln und anzuwenden. Im Mittelpunkt steht dabei immer der Kontext der Versorgungsleistung und der Interventionen im konkreten Setting. Versorgungsforschung misst die Effekte der Leistungen und des Versorgungssettings unter realen Bedingungen der Versorgungssituation und verfügt daher über eine hohe externe Validität, also die Übertragbarkeit der Erkenntnisse in einer populationsorientierten Versorgung.
Akteure wie Krankenkassen, Krankenhausketten oder die Kassenärztliche Bundesvereinigung halten mittlerweile gut entwickelte Strukturen zur Versorgungsforschung vor. Das Aufgabenspektrum dieser Einrichtungen sollte um neue Schwerpunkte und – insbesondere – um eine neue Zielbestimmung ergänzt werden: Die kontinuierliche Verbesserung der Versorgung der Patienten.
PD Dr. Anna Levke Brütt, Leiterin der Nachwuchsgruppe Rehaforschung an der Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, betont in ihrem Beitrag, dass partizipative Versorgungsforschung international längst etabliert ist, in Deutschland hingegen noch in den Kinderschuhen steckt. Mit dieser partizipativen Versorgungsforschung verbindet sich die Hoffnung, dass die „Nutzer“ des Versorgungssystems in verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses Einfluss auf Entscheidungen nehmen können. Dies betrifft zentral und zuallererst die Auswahl von Forschungsthemen.
Auch für die weitere Phasen des Forschungsprozesses, so etwa Projektplanung und Antragstellung, konnte bereits gezeigt werden, wie über Workshops mit Fokusgruppendiskussionen beispielsweise die Identifikation relevanter Endpunkte in Studien durch Patienten sinnvoll begleitet werden kann. Schließlich kann die Beteiligung von Patienten bei der Publikation von Studien gewährleisten, dass die Ergebnisse der Versorgungsforschung tatsächlich die Zielgruppen erreichen und auch in die Versorgungspraxis einfließen.
Die Effekte partizipativer Versorgungsforschung sind vielfältig – in Studien wird der bessere Zugang von Patienten zu neueren Forschungsergebnissen ebenso betont wie eine leichtere Rekrutierung von Patienten für die Teilnahme an Studien. Sollen in Deutschland indes die Potenziale einer partizipativen Versorgungsforschung stärker als bisher gehoben werden, dann muss die Infrastruktur für derartige Forschungsansätze verbessert werden.
Die medikamentöse onkologische Versorgung zeigt sich seit mehreren Jahren in einem grundlegenden Umbruch: weg von der ausschließlichen zytostatischen Chemotherapie, hin zu einer gezielten Attacke auf Angriffsziele in der Krebszelle samt ihren Abwehrmechanismen. In schneller Folge wurden und werden neue Medikamente zugelassen – allein seit 2011 über 100. Viele von ihnen beruhen auf neuen Wirkprinzipien, manche von ihnen sind in einem beschleunigten Verfahren zugelassen worden.
Viele
dieser neuen Substanzen erhöhen die Überlebenschancen der Patienten, aber sie
steigern auch die Herausforderungen an die behandelnden Ärztinnen und Ärzte.
Die erforderliche stadienassoziierte Behandlung, die Schwierigkeiten bei der
Validierung prädiktiver Marker und die zumeist unbefriedigende Evidenzlage
unmittelbar nach der Zulassung erfordern eine wissensgenerierende Medizin. Denn
fehlende Langzeitergebnisse und Sicherheitsaspekte erschweren das ärztliche
Handeln.
Doch dies verlangt eine ausreichend entwickelte Infrastruktur für die klinische Forschung ebenso, wie die systematische Generierung von Wissen aus der Versorgung – insbesondere Letzteres ist in Deutschland nicht hinreichend etabliert. Vor diesem Hintergrund diskutierten die Teilnehmer des 21. Frankfurter Forums unter dem Generaltitel „Präzisionsmedizin – Chancen für Forschung und Therapie“ die Beiträge der Referenten:
– Professor Dr. med. Dr. h.c. mult. Volker Diehl, ehemaliger Direktor der Klinik I Innerer Medizin an der Universität Köln und Gründungsdirektor des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen, berichtet am Beispiel des Hodgkin Lymphoms, inwieweit die Präzisionsmedizin eine neue Ära für Arzt und Patient eingeläutet hat. Der Autor zeigt auf, wie evidenzbasierte moderne Medizin sinnvoll verknüpft werden kann mit integrativer Medizin. Zwar haben Radio-Chemotherapie-Strategien in den vergangenen Jahren sehr hohe Heilungsraten bei Hodgkin-Patienten erreicht. Gravierende akute und chronische toxische Nebenwirkungen dieser Strategie erfordern aber neue Konzepte der Behandlung. Prof. Diehl schildert, wie gezielte Chemotherapie mit Antikörper-Wirkstoff-Konstrukten (ADC) und neue Immuntherapien mit Checkpoint-Inhibitoren in Zukunft gleich wirksame, aber weniger toxische Therapiestrategien ermöglichen.
– Professor Dr. med. Bernhard Wörmann,
Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie und Klinik für
Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie an der Charité, beschreibt in
seinem Beitrag den derzeitigen schnellen und durchgreifenden Fortschritt in der
Onkologie. Durch die molekulare Diagnostik sind große Krankheitsentitäten wie
das Lungenkarzinom in biologisch und klinisch distinkte Krankheitsbilder parzelliert
worden. Dabei kann die Entdeckung krankheitsrelevanter genetischer Aberrationen
als weitgehend abgeschlossen betrachtet werden. Aktuell findet die Phase der
Translation in die Versorgung statt – in der Diagnostik und in der Therapie.
Neue Arzneimittel und Arzneimittelkombinationen werden in bestehende
Therapiealgorithmen integriert, andere herausgenommen. Parallel ändert sich
auch die zielgerichtete Diagnostik. Angesichts der Dynamik der Entwicklung ist
aus Sicht von Prof. Wörmann wichtig, sich über Regeln zu verständigen: Darüber,
was wirksam, was nützlich – was für den individuellen Patienten sinnvoll ist.
– Professor Dr. med. Christoph von Kalle, Dr.
Georg Ralle und Florian Martius machen sich für eine „Vision Zero“ in der
Onkologie stark. Rund 220.000 Menschen sterben jedes Jahr in Deutschland an
Krebs. Doch diese Erkrankung wird nur mit einem Bruchteil der gesamten
Gesundheitsaufwendungen in Deutschland bekämpft. Eine „Vision Zero“ in der
Onkologie ist aus dem Straßenverkehr entlehnt. Dort wurde vor einigen
Jahrzehnten bereits angesichts dauerhaft hoher Verkehrsopferzahlen das Ziel
formuliert, jeder Verkehrstote sei einer zu viel. Bekannt ist bereits heute,
dass mehr als ein Drittel der Krebsneuerkrankungen durch Prävention und
Früherkennung vermieden werden könnten. Doch die Voraussetzungen, um dieses
neue „Mindset“ in die Tat umzusetzen sind hoch: Ausreichende finanzielle Mittel
und ein patientenzentriertes Gesundheitsdaten-Management, in dem
Informationstechnologie und Medizin zusammenwachsen.
– Dr. med. Iris Watermann und Professor Dr.
med. Martin Reck, LungenClinic Großhansdorf, loten in ihrem Beitrag die
Potenziale der personalisierten Therapie am Beispiel der Behandlung von
Patienten mit Lungenkarzinom aus. Bisher ist die Prognose des Lungenkarzinoms
mit einer Fünfjahresüberlebensrate von etwa 15 Prozent schlecht. Gegenwärtig
vollzieht sich bei der Behandlung aber ein Paradigmenwechsel, der zu einer
deutlichen Verbesserung der Überlebenszeit führt. Die Voraussetzungen, um
Patienten die bestmögliche Therapie zu ermöglichen, setzen einen
multidisziplinären Austausch, eine umfangreiche Diagnostik, die ausführliche
Dokumentation sowie die Umsetzung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse
voraus. Bisher würden Wissenschaftler in Deutschland noch zu häufig durch
zeitraubende Genehmigungsprozesse an der Möglichkeit gehindert, an klinischen
Studien teilzunehmen, betonen die Autoren.
– PD Dr. med. Rachel Würstlein und Professor
Dr. med. Nadia Harbeck, Brustzentrum, Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde
und Geburtshilfe und CCC München, Klinikum der Universität München, beschreiben
in ihrem Beitrag, inwiefern die individualisierte Diagnostik und Therapie des
Mammakarzinoms noch Hoffnung oder bereits Realität ist. Durch
Individualisierung von Diagnostik und Therapie ist das Mammakarzinom bei über
75 Prozent der Frauen – und betroffenen Männern – inzwischen eine heilbare
Erkrankung geworden. Dabei entscheiden prognostische und prädiktive Marker über
die Möglichkeit der Vermeidung von Über- und Untertherapie bei der
medikamentösen Therapie. Immer wichtiger werden zudem neue Kommunikationsformen
auf Basis von e-Health für die Begleitung der Patienten – wie etwa für die
Kontrolle der Adhärenz bei oralen Therapien. Individualisierte Prävention,
Diagnostik und Therapien erfordern Experten aus vielen Bereichen – inklusive
der Pflege – und damit eine bessere sektorübergreifende Versorgung.
– Professor Dr. med. Stephan Schmitz, Geschäftsführender Gesellschafter des MVZ für Hämatologie und Onkologie Köln am Sachsenring, fragt in seinem Beitrag danach, wie die Translation in der Hämatologie und Onkologie organisiert werden sollte. Dabei muss Translation als bidirektionaler Prozess verstanden und organisiert werden: als klassischer Weg von der Forschung zur Anwendung am Patienten und zugleich als Erkenntnisgewinn aus der Regelversorgung für forschende Institutionen. Der starke Wissenszuwachs macht dabei neue Prozesse, Strukturen und Organisationsabläufe nötig. Dies gilt auch für die Förderung von Versorgungsstrukturen in der Onkologie, für die es bisher noch zu wenig Unterstützung gibt.
Der Einsatz von Big-Data-Anwendungen und Robotern im Gesundheitswesen, die mittels Künstlicher Intelligenz arbeiten, wirft völlig neue Fragen der Regulierung auf, verschärft aber auch bestehende Trends im Gesundheitswesen, so zum Beispiel hinsichtlich der Individualisierung von Risiken. Nötig sind daher Antworten auf politischer und gesellschaftlicher Ebene – beispielsweise im Sinne der Definition klarer Haftungsregeln. Daher bedarf der Einsatz solcher Systeme immer einer zuvor von Menschen gesteuerten Prüfung. Dafür sprachen sich Teilnehmer des 20. Frankfurter Forums aus, das am 26./27. April 2019 in Fulda unter dem Generaltitel „Big Data-Analysen – neue Perspektiven für Forschung, Diagnostik und Therapie?“ tagte.
Professor Dr. med. Stephan Sahm, Senckenbergisches Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Goethe-Universität Frankfurt, diskutiert in seinem Beitrag ethische Aspekte der Anwendung von Robotik und Künstlicher Intelligenz (KI) in der medizinischen Praxis. Denn für die Anwendung in der Pflege werden derzeit zahlreiche Robotersysteme getestet. Ebenso eröffnen selbstlernende Algorithmen neue Perspektiven für die Präzisionsmedizin, etwa bei der Analyse genetischer Informationen. Solche Anwendungen konfrontieren Pflege und Medizin mit neuen ethischen Herausforderungen. Grundsätzlich muss durch Algorithmen gebundene Autonomie von personaler Autonomie unterschieden werden. Diese Anschauung wird nicht in allen Kulturen geteilt. Basierend auf dem Verständnis personaler Autonomie lassen sich Prinzipien für die Entwicklung menschenzentrierter Robotik und KI ableiten. Die Europäische Union unternimmt derzeit Anstrengungen, diese Prinzipien als Voraussetzung der Entwicklung von Robotik und KI zu verankern. Unzweifelhaft kann die Beachtung ethischer Prinzipien nur durch ein supranationales Regelwerk sichergestellt werden. Doch hier kann Europa einen den Prinzipien des europäischen Gedankens angemessenen Weg finden, der über die EU hinaus Beachtung finden wird.
Professor Dr. jur. Stefan Huster, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Sozialrecht an der Ruhr-Universität Bochum und Geschäftsführender Direktor des dortigen Instituts für Sozial- und Gesundheitsrecht, diskutiert in seinem Beitrag ethische und juristische Aspekte des individualisierten Risikos – eine Folge der vermehrten Anwendung von Big Data und KI im Gesundheitswesen, die dazu führt, dass wir immer präzisere Informationen über individuelle Gesundheitsrisiken erhalten. Diese Individualisierung des Risikos lässt zum einen die Abgrenzung von Krankheit und Gesundheit brüchig werden, so dass sich die Frage stellt, ob und inwieweit die Versorgungssysteme auch präventive Leistungen zur Verhinderung des Risikoeintritts gewährleisten müssen. Zum anderen wird befürchtet, dass die Erkenntnisse über individuelle Risikoprofile das Modell der Krankenversicherung und ihren solidarischen Charakter gefährden.
Professor Dr. rer.pol. Volker Ulrich, Lehrstuhl für VWL III, insbesondere Finanzwissenschaft, Universität Bayreuth, erörtert in seinem Beitrag, ob angesichts der Fortschritte in der Onkologie der medizinische Fortschritt finanzierbar bleibt. Denn im Gesundheitswesen findet gegenwärtig eine Diskussion über die Hochpreisigkeit neuer Verfahren und Produkte statt. Insbesondere im Arzneimittelbereich hält sich hartnäckig eine Mondpreisdiskussion bei Arzneimittel-Innovationen. Darin werden die als viel zu hoch empfundenen Preise und Therapiekosten für neue Medikamente thematisiert und seitens der Kostenträger wird vor einer finanziellen Überforderung des GKV-Systems gewarnt. Der Beitrag diskutiert wettbewerbliche Instrumente und Regulierungsansätze, die wirksame Maßnahmen zur Steuerung und auch zur Begrenzung der Arzneimittelausgaben darstellen. Sie können miterklären, warum es trotz des Preisauftriebs bei neuen Medikamenten bislang nicht zu einer Kostenexplosion in der Arzneimittelversorgung gekommen ist. Die Frage nach der Finanzierbarkeit des medizinisch-technischen Fortschritts kann aus ökonomischer Perspektive eindeutig mit ja beantwortet werden.
Professor Dr. rer. nat. Eva Susanne Dietrich, Institut für evidenzbasierte Positionierung im Gesundheitswesen, debattiert in ihrem Beitrag die Frage, inwieweit eine Präzisionstherapie für jeden Krebspatienten als realistisches Versprechen oder als unrealistisches Ziel bezeichnet werden muss. Der Beitrag beschreibt den aktuellen sozialrechtlichen Rahmen und mögliche Probleme in der praktischen Implementierung einer Präzisionstherapie. Der noch geringe Umfang verfügbarer Evidenz, der weitgehend fehlende Zugang zu den erforderlichen Daten, ein Paradigmenwechsel in der Zulassung und Arzneimittelversorgung sowie eine mögliche Einschränkung der ärztlichen Autonomie stellen dabei besondere Herausforderungen dar. Viele unbeantwortete Frage stellen sich mit Blick auf künftig veränderte Zulassungsregularien: Wollen wir tatsächlich eine Verlagerung der Arzneimittelversorgung hin zu experimentellen Therapien? Akzeptieren wir sie nur als Ultima Ratio oder auch in der Routineversorgung? Schließlich ist auch unklar, inwieweit sich der ärztliche Ermessensspielraum künftig ändern wird: Wie viel Autonomie soll und darf der Arzt aufgeben?
Professor Dr. med. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Frage, welchen Beitrag Big Data in der Onkologie mit Blick auf eine biomarker-basierte Präzisionsmedizin leisten kann. Im letzten Jahrzehnt sind große Fortschritte in der molekulargenetischen Charakterisierung solider Tumore und hämatologischer Neoplasien durch die Anwendung innovativer Technologien erzielt worden. Gleichzeitig hat die Zahl zielgerichteter neuer Arzneimittel für die Behandlung von Krebserkrankungen deutlich zugenommen. Ergebnisse der bisher vorliegenden klinischen Studien zeigen, dass nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen derzeit für Therapien, die auf genomischen Analysen basieren, infrage kommen und davon profitieren. Der Artikel beschreibt den potenziellen Beitrag von Big Data für die Biomarker-basierte Präzisionstherapie und verdeutlicht anhand von drei Beispielen künftige Einsatzgebiete von Big Data in der Onkologie.
Demenz – neue Ansätze in Forschung, Diagnose und Therapie
Durchbrüche bei der medikamentösen Behandlung von Menschen mit Alzheimer-Demenz sind gegenwärtig nicht in Sicht. Doch für Defätismus hinsichtlich der Prävention und Behandlung der Erkrankung, von der zurzeit rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland betroffen sind, besteht kein Anlass. Das haben die Teilnehmer des 19. Frankfurter Forums betont, das am 26./27. Oktober 2018 unter dem Generaltitel „Alzheimer-Demenz – neue und hoffnungsvolle Ansätze in Forschung, Diagnose und Therapie“ in Fulda tagte.
Professor
Dr. Dr. Thomas Fuchs, Karl-Jaspers-Professor für philosophische
Grundlagen der Psychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik
Heidelberg, betont in seinem Aufsatz eine Auffassung von Personalität, die ihre
Grundlage in der Leibphänomenologie hat. Danach ist Selbstsein wesentlich verkörpert:
Es beruht auf einer Geschichte leiblicher Erfahrungen, die sich in den
Gewohnheiten des wahrnehmenden, fühlenden, handelnden Umgangs mit der Welt
niedergeschlagen hat. Diese Form des Gedächtnisses weist auf eine Kontinuität
und Identität der Person hin, die nicht in ihren bewussten Erinnerungs- und
Wissensbeständen verankert ist, sondern in einer in unserem Leib sedimentierten
Erfahrung.
Professor
Dr. Frank Jessen, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und
Psychotherapie der Universitätsklinik Köln, diskutiert die Frage, inwieweit
Risikoprofile und Biomarker für die individuelle Prädiktion der
Alzheimer-Krankheit geeignet sind. Aus vielen Studien der letzten Jahre ist
bekannt, dass aggregiertes Amyloid und -Tauprotein bei der Alzheimer-Krankheit
der symptomatischen Manifestation einer Demenz bis zu 30 Jahre vorausgehen.
Durch Anwendung von Biomarkern bei
leichten und unspezifischen klinischen Syndromen ist das Risiko für eine spätere
Demenz abschätzbar. In der Forschung werden bereits Interventionen bei
Patienten mit leichten kognitiven Störungen und einem für die
Alzheimer-Krankheit typischen Biomarkerbefund durchgeführt.
Oliver
Stahl, Senior Director Corporate Affairs bei Lilly
Deutschland, schildert aus der Perspektive eines forschenden Pharmaunternehmens
die Forschungsanstrengungen der vergangenen 30 Jahre. Er verweist darauf, dass
die Komplexität klinischer Studien zunimmt, da sich der Fokus immer mehr zu
Patienten mit leichter kognitiver Beeinträchtigung verschiebt. Dies führt dazu,
dass mittlerweile eine einzige Zulassungsstudie mehrere hundert Millionen Euro
kosten kann. Dies illustriert den enormen finanziellen Aufwand und das
erforderliche Durchhaltevermögen, das die Arzneimittelforschung insbesondere in
diesem Therapiegebiet kennzeichnet.
Professor
Dr. Hans Förstl, Direktor der Klinik für Psychiatrie und
Psychotherapie der TU München, skizziert
Vorgeschichte, Gegenwart und Zukunft der Demenzbehandlung. Etwa 2000 Jahre lang
bestimmte die Humoralpathologie das therapeutische Handeln auch hinsichtlich
der Demenz. Sie wurde abgelöst von der aufklärerischen Iatrochemie, der
strapaziösen Sozialpsychiatrie und der toleranten Münchner Klassik.
Wiederaufbau und Ölkrise prägten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den
Umgang mit dem Demenzproblem als Vitamin- und Treibstoffmangel. Die
Pharmakologie der Antidementiva verbessert in unserem Zeitalter der Telekommunikation
die Signaltransmission von Neuron zu Neuron. Aktuell gibt die
Grundlagenforschung wichtige Hinweise für die Bedeutung der zerebralen
Hydraulik und Osmose.
Professor Dr. Johannes Pantel und Dipl.-Psych. Arthur Schall, Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt, diskutieren in ihrem Beitrag den Stellenwert nicht-medikamentöser Therapieansätze. Das Spektrum der Interventionen umfasst kognitiv aktivierende Verfahren, körperliche Aktivität und multisensorische Anregung ebenso wie den Einsatz künstlerischer Medien oder technischer Artefakte. Allen Ansätzen gemeinsam ist eine ressourcenorientierte Ausrichtung im Sinne einer Förderung von Wohlbefinden, Lebensqualität und positiver Emotionen. Personalintensität, die häufig nicht gesicherte Refinanzierung durch Sozialkassen sowie die nicht flächendeckend gegebene Verfügbarkeit sowie Zugänglichkeit sind bestehende Hürden für den Einsatz nicht-medikamentöser Verfahren.
Dr. Thomas Sitte, ehrenamtlicher Vorstandsvorsitzender der Deutschen Palliativ-Stiftung, verweist in seinem Beitrag darauf, dass an Demenz erkrankte Menschen unter denselben anderen Beschwerden leiden wie Nicht-Demente. Dazu kommen durch die fortschreitende demenzielle Entwicklung starke oder auch stärkste Schmerzen, von denen demente Menschen mehr betroffen sind. Zudem wird die Kommunikationsfähigkeit im Laufe der Demenz immer mehr eingeschränkt, so dass das Erkennen und Behandeln von Schmerzen eine therapeutische Herausforderung sein kann. Sitte betont, die Behandlung von Schmerzen bei Menschen auch mit schwerster Demenz ist in Deutschland im Krankenhaus genauso wie in Pflegeeinrichtungen und zu Haus leitliniengerecht möglich.
Trotz Fortschritten bei der Erkennung – teilweise auch bei der Behandlung – sind die unipolare Depression und die Demenz zwei Krankheiten, die in Deutschland nach wie vor mit der größten Krankheitslast einhergehen. Insbesondere bei der Versorgung und Behandlung von alten Patienten mit Depressionen existieren nach wie vor große Verbesserungsspielräume. Ungeachtet aller Aufklärungskampagnen und einer gestiegenen Sensibilisierung von Ärzten und medizinischem und pflegerischem Personal, wird die Depression als eigenständige Erkrankung nach wie vor nicht ernst genug genommen. Im Fall der Demenz wird immer deutlicher, dass diese Erkrankung offenbar der Preis für die Hochaltrigkeit ist. Insofern werden gegenwärtig in Deutschland Jahr für Jahr 244.000 Neuerkrankungen registriert. Zwar lässt sich bei einzelnen Entwicklungen, wie beispielsweise beim Ausbau der Selbsthilfe, ein eindeutig positiver Trend aufzeigen. Was aber nach wie vor aussteht, sei eine Gesamtstrategie, die die vorhandenen personellen Ressourcen der informellen Pflege wie der Fachpflege in den Blick nimmt.
Vor diesem Hintergrund beleuchten die Autoren des Diskurs-Hefts 18 „Demenz und Depressionen – was kommt auf uns zu“ aus verschiedenen Perspektiven Erfolge, Chancen und Versäumnisse im Umgang mit den beiden Erkrankungen.
Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Leipzig, verweist in seinem Referat unter anderem auf Forschungsbemühungen, die möglichst ganz zu Beginn oder besser noch vor dem Auftreten kognitiver Defizite mit Behandlungsversuchen ansetzen. Die Hoffnung ruht derzeit auf Versuchen, über Biomarker Personen mit erhöhtem Erkrankungsrisiko zu identifizieren. Die Herausforderung besteht hier darin, große Gruppen von weitgehend oder völlig beschwerdefreien Personen zu identifizieren, über viele Jahre zu begleiten und mit einer Kontrollgruppe zu vergleichen. Ein wichtiger Schritt dafür wäre die Entwicklung brauchbarer, leicht zu erhebender Biomarker mit guter prognostischer Sensitivität und Spezifität, hebt Hegerl hervor.
Prof. Dr. Volker Ulrich, Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre III an der Universität Bayreuth, lenkt in seinem Beitrag den Blick auf die Bedeutung informeller Pflegekosten im Zusammenhang mit der Demenz. Denn diese sind entscheidend für die Gesamtkosten der Alzheimer-Demenz – wurden in vielen Studien aber bisher nicht angemessen berücksichtigt. Zwar erfährt die Pflege zu Hause die höchste Wertschätzung, muss aber nicht immer auch eine kosteneffiziente Versorgungsform darstellen. Von daher macht die Suche nach alternativen Versorgungskonzepten ökonomisch durchaus Sinn.Wie sich die Kosten der Behandlung und Betreuung von Demenz-Patienten entwickeln werden, ist nur schwer und mit Unsicherheiten abzuschätzen. Die künftige Ausgabenentwicklung bei Alzheimer-Medikamenten wird entscheidend davon abhängen, ob die Kompressions- oder die Medikalisierungsthese gilt. Kostenkompression würde in diesem Zusammenhang bedeuten, dass das Eintreten der Erkrankung im Lebenszyklus nach hinten verschoben und parallel dazu auch die Ausgabenkurve abgeflacht werden kann. Doch eine Behandlung gegen Demenz, die den Verlauf der Krankheit hinausschiebt, gibt es noch nicht.
Dr. h.c. Jürgen Gohde, Kurator des Kuratoriums Deutsche Altershilfe, richtet in seinem Referat den Fokus auf die Schnittstellen und Übergänge in der Betreuung von Demenz-Patienten zwischen Familie, Pflege und Krankenhaus. Denn Menschen mit demenziellen Erkrankungen und ihre Angehörigen sind auf kreative Beziehungen im Sozialraum angewiesen. Doch an den Schnittstellen des Versorgungssystems zeigen sich die Herausforderungen: Gohde bezeichnet die Verbesserung von Beratung und Case- und Care-Management als unumgänglich. Als weitere Herausforderung steht die Stärkung und Förderung der Pflegebereitschaft der Angehörigen durch den Ausbau einer flexibilisierten Tagespflege an. Unverzichtbar schließlich ist eine Nationale Demenzstrategie, die evaluierbare Umsetzungsschritte enthält und Zuständigkeitsfragen regelt.
Prof. Dr. Meryam Schouler-Ocak, Leitende Oberärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin, verweist in ihrem Beitrag darauf, dass die wachsende Gruppe älter werdender Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland aufgrund vielfältiger Risikofaktoren eine Demenz im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung deutlich früher ausbildet. Doch gerade bei dieser Gruppe erschweren fehlende valide Testinstrumente und kultur- und sprachgebundene Verständigungsprobleme die diagnostische Zuordnung mit Fehldiagnosen und -behandlungen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, dass interkulturelles Kompetenztraining als ein Modul in die Ausbildung der Gesundheits- und Pflegeberufe aufgenommen werden sollte.
Die Digitalisierung ist längst im Gesundheitswesen angekommen. Allerdings hinkt das Gesundheitswesen im Vergleich zu anderen Branchen hier noch deutlich hinterher. Hürden sind insbesondere die starke Fragmentierung des Systems und seiner Akteure, die hohe regulative Normendichte und die ungleiche Verteilung von Kosten und Nutzen der Digitalisierung. Doch digitale Angebote in anderen Wirtschaftszweigen haben bei den Versicherten längst neue Erwartungshaltungen im Hinblick auf Bequemlichkeit, Verfügbarkeit und Service wachsen lassen.
Gleichzeitig tauchen im Gesundheitswesen neue Akteure auf – insbesondere in der Privaten Krankenversicherung experimentieren Anbieter bereits mit neuen Geschäftsmodellen. Zugleich nehmen Versicherte längst neue digitale Angebote an, die ihnen einen aktivere Rolle erlauben: Wearables, die die Sammlung von persönlichen Gesundheitsdaten erlauben, werden immer beliebter. Auch wird das Gesundheitswesen immer mehr zum Marktplatz – sei es bei der Bewertung von Ärzten oder bei der Online-Terminvergabe. Schließlich tauschen sich Patienten immer häufiger in Foren oder Chats aus und handeln selbstbestimmter. Vor diesem Hintergrund wächst der Druck, in der GKV und anderen Teilbereichen des Gesundheitswesens, Regelungen zu treffen, die es erlauben, einen selbstbestimmten Umgang mit Daten und hohe Schutzanforderungen in Einklang zu bringen.
Die Autoren des Diskurs-Hefts 17 „Digitales Gesundheitswesen: Konzepte und Praxisbeispiele“ stellen bereits realisierte oder geplante digitale Vorhaben im Gesundheitswesen vor. Dabei werden Chancen einer besseren Versorgung von Patienten deutlich, aber auch Limitationen – sei es aufgrund des geltenden ärztlichen Berufsrechts, angesichts von Datenschutzbestimmungen und wegen bisher fehlender Möglichkeiten der Vernetzung von Daten.
Prof. Dr. Friedrich Köhler und Sandra Prescher vom Charité-Zentrum für kardiovaskuläre Telemedizin erläutern in ihrem Beitrag ihre Erfahrungen mit der telemedizinischen Mitbetreuung von Herzinsuffizienzpatienten. Die Rationale dabei liegt in einer Früherkennung und Behandlung beginnender kardialer Dekompensation durch komplexe Interventionen bestehend aus Vitaldatenmonitoring, Patientenschulung und einer engen Zusammenarbeit im Telemedizinzentrum und vor Ort beim Patienten. Dieses holistische ambulante Betreuungskonzept firmiert unter dem Begriff „Remote Patient Management“. Geeignet ist diese telemedizinische Mitbetreuung insbesondere für Risikopatienten, bei der eine Reaktionszeit von weniger als einem Tag erforderlich ist. Randomisierte klinische Studien haben wiederholt gezeigt, dass telemedizinisch mitbetreute Patienten von einer geringeren Zahl an Rehospitalisierungen, einer niedrigeren Mortalität und einer besseren Lebensqualität profitieren.
Professor Dr. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer, verweist in seinem Beitrag auf die Probleme der Gesetzlichen Krankenversicherung insgesamt, digital zu denken und zu handeln. Krankenkassen kommunizieren noch heute zumeist über klassische Kommunikationskanäle. Dabei hat Digitalisierung das Potenzial, das Gesundheitswesen grundlegend zu verändern. Sie erlaubt es zum einen, Patienten stärker aktiv in das Management ihrer Krankheiten einzubinden. Zum anderen lässt sich mit der Digitalisierung besser das Bedürfnis nach Individualität der Versicherten bedienen. Digitalisierung im Versorgungsalltag kann aber auch mittels prädiktiver Analytik helfen, Erkrankungswahrscheinlichkeiten besser zu beurteilen. Dies wird beispielsweise eine gezieltere Prävention erlauben. Dabei sollten digitale Produkte nicht als Konkurrenz, sondern immer nur als Ergänzung der ärztlichen Behandlung verstanden werden.
Dr. Amin-Farid Aly, Referent für Telematik und Telemedizin bei der Bundesärztekammer, verweist darauf, dass bei der Etablierung telemedizinischer Konzepte geprüft werden muss, ob die Patientensicherheit im jeweiligen telemedizinischen Setting gewährleistet wird. Weiterhin muss geklärt werden, ob die Methoden hinsichtlich der diagnostischen Aussagekraft mit konventionellen Verfahren mindestens gleichwertig sind. Der bestehende Rechtsrahmen kann aber nicht die Ursache dafür sein, dass das Nutzenpotenzial noch nicht ausgeschöpft wird. Denn der überwiegende Teil der telemedizinischen Verfahren ist schon im bestehenden Rechtsrahmen zulässig.
Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit, plädiert dafür, Erprobungsräume und Qualitätsstandards zu schaffen, die es ermöglichen, telemedizinische Angebote und Online-Therapien verbindlich zu prüfen. Dabei müsse es das Ziel sein, wertvolle Angebote von denen zu trennen, die ausschließlich kommerziellen Interessen dienen, ohne einen wirklichen Versorgungsnutzen zu haben. Die Krankenkasse hat ein Online-Therapieangebot bei Depressionen im Rahmen einer randomisiert-kontrollierten Studie untersuchen lassen. Dabei zeigte sich eine signifikante Reduktion der Depressivität bei gleichzeitig gesunkenen Behandlungskosten.
Thomas Ballast, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse, sieht viele digitale Potenziale in der Versorgung bisher ungenutzt. Eine wichtige Aufgabe ist es daher, das vorhandene Wissen und die verwendbaren Daten allen an der Behandlung beteiligten Akteuren zugänglich zu machen. Denn bisher verfügen Ärzte nur über ein Teilwissen ihrer Patienten, auf das sie aber ihre Diagnose und die gesamte Behandlung aufbauen müssen. Doch dieses Wissen wird bisher an den Sektorengrenzen zwischen der ambulanten und der stationären Versorgung abgeschnitten. Dies liegt aber nicht an einem Mangel an Daten. Vielmehr verharren die Daten bei Krankenkassen, Leistungserbringern und Versicherten – ein Austausch findet kaum statt. Diese Gesundheitsdaten könnten einen sicheren Hafen in der elektronischen Gesundheitsakte finden, die ausschließlich dem Patienten gehört. Die Versicherten entscheiden dabei alleine, welche Informationen in der Akte gespeichert werden und wer darauf zugreifen darf.
Als Resümee der Diskussion beim 17. Frankfurter Forum wurde festgehalten, dass eine ordnungspolitische Debatte über Ziele und Wege für die Digitalisierung im Gesundheitswesen notwendig ist. Hier ist der Gesetzgeber gefordert. Chancen und Risiken sind gleichermaßen gegeben – jetzt kommt es auf die politische Gestaltung eines sinnvollen und dem Ziel der guten Patientenversorgung dienenden Ideenwettbewerbs an.
Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist mit großen Chancen verbunden. Sie kann den Weg für bessere Versorgungslösungen ebnen und bietet neue Möglichkeiten für eine unmittelbare Arzt-Patienten-Kommunikation. Doch die herkömmlichen staatlichen Regulierungsansätze sind augenscheinlich bisher mit der Dynamik der technischen Entwicklung überfordert.
Einerseits fehlt es gegenwärtig überwiegend an praktikablen Ansätzen, um beispielsweise Smartphone-Applikationen, die einen Patientennutzen versprechen, abzugrenzen von Angeboten, die wenig Evidenz, dafür aber hohe Risiken im Hinblick auf den Datenschutz erwarten lassen. Andererseits bieten die schon bisher im Zuge der Versorgung erhobenen Routinedaten der gesetzlichen Krankenkassen eine Vielzahl an Möglichkeiten, um Versicherte proaktiv im Sinne einer lückenlosen Versorgung anzusprechen. Hier aber hemmen die strengen Vorgaben des Sozialdatenschutzes bisher die Kostenträger in dem Bemühen, Über-, Unter- und Fehlversorgungen rechtzeitig zu erkennen und zu verhindern. Vor diesem Hintergrund diskutieren die Autoren im Diskurs-Heft 16 „Digitales Gesundheitswesen: Chancen, Nutzen, Risiken“ das Thema aus einer interdisziplinären Perspektive.
Privat-Dozent Dr. Urs-Vito Albrecht, stellvertretender Direktor des hannoverschen Standorts des Peter L. Reichertz Instituts für Medizinische Informatik der TU Braunschweig und der MHH, betont, mobile Technologien könnten breiten Bevölkerungsschichten die Möglichkeit zur besseren Teilhabe an Gesundheitsprozessen geben. Wo Patienten in der Versorgung eher eine passive Rolle innehatten, könnten mobile Technologien die Anwender nun aktiv einbinden und sie Verantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen lassen. Die entsprechenden Potenziale werden allerdings bisher kaum genutzt, bedauert Albrecht in seinem Beitrag „Gesundheits-Apps – Patientennutzen versus Kommerz“. Von Seiten der Politik sei daher eine aufmerksame Ausgestaltung der Rahmenbedingungen in Form einer Begleitung der Entwicklungen des mobilen Sektors geboten. Sie sollte mit Vorsicht aber dennoch wohlwollend tätig werden, um Entwicklungspotenziale nicht bereits im Keim zu ersticken, lautet Albrechts Plädoyer. Dazu gehöre auch das Fördern von Maßnahmen, die Evidenz schaffen und somit langfristig auch eine Finanzierung mHealth-basierter Lösungen ermöglichen.
Prof. Dr. h.c. Herbert Rebscher, Institut für Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung, erinnert in seinem Beitrag „Versichertendaten in der GKV: Wege zur besseren Steuerung und Effizienz der Versorgung“ an das Konzept einer „Solidarischen Wettbewerbsordnung“ in der GKV. Dessen zentrales Ziel lautet, die Akteure des Systems zu motivieren und in die Lage zu versetzen, durch systematische Suchprozesse und selektive Vertragsmodelle die Versorgung der Patienten zu verbessern. Dieses Konzept wurde politisch nur zurückhaltend umgesetzt und – insbesondere auf Angebotsseite – nie wirklich konsequent verfolgt, bedauert Rebscher. Zudem sei insbesondere die Nutzung der Versichertendaten für eine bessere Steuerung und Versorgung einseitig unter dem Aspekt des Datenschutzes und nur nachrangig unter dem ebenso wichtigen Aspekt einer qualitativ hochwertigen und wirtschaftlichen Patientenversorgung diskutiert worden. Rebscher spricht sich für eine gesetzliche Aufgabenzuweisung an Krankenkassen aus: Sie sollten die Möglichkeit erhalten, selbst Versorgungsmanagement zu betreiben. Entsprechend sollten die erforderlichen Regelungen zum Sozialdatenschutz in Paragraf 284 SGB V angepasst werden.
Prof. Dr. Dr. Eva Winkler vom Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen am Universitätsklinikum Heidelberg betont in ihrem Beitrag „Big Data in Forschung und Versorgung: ethische Überlegungen und Lösungsansätze“, es handele sich bei „Big Data“ keineswegs nur um ein Modewort. Es gebe in der Medizin vielversprechende Anwendungsfelder in der Forschung, der Krankenversorgung, aber auch an der Schnittstelle zwischen den beiden Bereichen – der Translation. Zu den damit verbundenen ethischen Handlungsfeldern gehörten Fragen nach der Information und Zustimmung der Datennutzung durch Studienteilnehmer, der Umgang und die Rückmeldemöglichkeit von Zufallsbefunden aus der Forschung oder die Verantwortung von Forschern und Institutionen im Gesundheitswesen bei der Datenweitergabe und Datennutzung. Winkler konstatiert, dass die in Deutschland geltenden Prinzipien für die Datennutzung zu Forschungszwecken – wie Datensparsamkeit, Zweckbindung der Nutzung und der Einwilligungsprozess mit Aufklärung für ein Forschungsprojekt – die Art von Forschung, von der man sich heute einen großen Nutzen verspricht, behindern. Künftig seien Forscher und ihre Institutionen daher viel stärker als bisher in der Pflicht, für die Gestaltung eines verantwortlichen Umgangs mit Forschungsdaten die Rahmen- und Schutzbedingungen so zu gestalten, dass Risiken für die Re-Identifizierung der Patienten minimiert werden. Parallel dazu werde künftig der Beratungs- und Informationsbedarf auf Seiten der Patienten steigen.
Prof. Dr. Gerd Hasenfuß, Direktor der Klinik und Kardiologie und Pneumologie der Universitätsmedizin Göttingen, hebt hervor, internet-basierte Arzt-Patient-Interaktionen seien bereits im Versorgungsalltag angekommen. In seinem Beitrag „Digitalisierung in der Medizin Herausforderungen für Ärzte und Patienten“ berichtet er über Smartphone-Applikationen, die eine kontinuierliche Überwachung von Patienten mit Implikationen für präventive, diagnostische und therapeutische Maßnahmen versprechen. Nachdem Politik und Ärzteschaft das Potenzial der Fernbehandlung erkannt haben, wurde das Fernbehandlungsverbot relativiert und für Pilotprojekte explizit aufgehoben. Eine große Herausforderung bestehe jedoch darin, die Zuverlässigkeit der Information und die Datensicherheit zu gewährleisten. Außerdem müssten IT-Lösungen zur Kanalisierung der Datenflut und zum Informationsaustausch zwischen Arzt und Patient entwickelt werden. Hasenfuß fordert, es müsse dafür Sorge getragen werden, dass auch weniger technikaffine Patienten am Fortschritt durch Mobile Health partizipieren können.
Gesundheitsbezogene Lebensqualität ist ein anspruchsvolles Konzept, dessen Anwendung Chancen bietet, bisher häufig aber auf Grenzen stößt. Die Erfassung dieser Daten kann Informationen dafür bereitstellen, welche Patientengruppen unter Gesichtspunkten der Lebensqualität besonderen Anspruch auf Hilfe haben sollten. Oder aber Lebensqualitätsdaten können einen Beitrag dazu leisten, sinnvoll mit knappen Ressourcen im Gesundheitswesen umzugehen, um Formen impliziter Rationierung zu vermeiden.
Die Anwendung dieses Konzepts für die konkrete Allokation von Ressourcen im Gesundheitswesen wirft indes nicht nur methodische Herausforderungen auf, sondern trifft in Deutschland auch auf verfassungsrechtliche Bedenken. Vor diesem Hintergrund diskutieren die Autoren im Diskurs-Heft 15 „Lebensqualität und Versorgung: Messen, wägen, entscheiden“ aus interdisziplinärer Perspektive die Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Lebensqualitätsdaten insbesondere in konkreten Versorgungskontexten. Hierbei schließt die Publikation unmittelbar an das Diskurs-Heft 14 an. Dort wurden diese Fragen aus einer primär theoretischen Perspektive erörtert.
Aus einer rechtswissenschaftlichen Betrachtung erinnert Professor Dr. Thomas Gutmann, dass sich die Methodik der Lebensqualitätsforschung sowohl bei generischen wie auch bei krankheitsspezifischen Instrumenten dynamisch entwickelt hat. Indes hinken die Diskussionen darüber, worum es bei „gesundheitsbezogener Lebensqualität“ eigentlich gehen sollte und welches normative Gewicht das Konzept hat, dieser Entwicklung hinterher. Auch im deutschen Sozialrecht ist Lebensqualität im Hinblick auf seine regulatorische Bedeutung und auf den Grad seiner theoretischen Durchdringung bisher allenfalls ein Randthema. Auch ein „nur“ gesundheitsbezogener Begriff von Lebensqualität kann sich nicht von der philosophischen Leitfrage lösen, was ein gutes Leben ausmacht. Normativ relevant werde „Lebensqualität“ daher erst im Rahmen spezifisch normativer Begründungen, betont der Autor.
Die ökonomische Bewertung des Lebens ist oft ein ethisch strittiges Unterfangen, erläutert Professor Dr. Volker Ulrich. Wird versucht, den Wert der Verlängerung eines statistischen Lebens ökonomisch zu bestimmen, so besteht das Ziel darin, Entscheidungsgrundlagen für öffentliche Gesundheitsmaßnahmen zu schaffen, um Gesundheits- respektive Sterberisiken in einer Gesellschaft zu verringern. Unter den Verfahren der kombinierten Messung von Lebenslänge und Lebensqualität ist das QALY-Maß die meistgenutzte Kennzahl in der gesundheitsökonomischen Evaluation. Angesichts der Notwendigkeit, im Gesundheitswesen indikationsübergreifende Entscheidungen treffen zu müssen, kann der QALY-Ansatz eine international bewährte Basis bilden. Insoweit spreche nichts dagegen, konkrete Entscheidungen mit Hilfe eines QALY-Wertes zumindest zu bewerten und zu kontrollieren, betont der Autor.
Angesichts langjähriger, chronischer Krankheitsverläufe und bislang fehlender Heilungschancen stellt der Erhalt und die Verbesserung der Lebensqualität von demenzkranken Menschen ein zentrales Anliegen der medizinischen und pflegerischen Versorgung dar, erinnert Professor Dr. Johannes Pantel in seinem Beitrag. Lebensqualität bei Demenz umfasst sowohl subjektive als auch objektive Aspekte der konkreten Lebenswirklichkeit der Betroffenen. Dieser Multidimensionalität tragen die in den vergangenen Jahren entwickelten Modelle zur Beschreibung und Erfassung von Lebensqualität auch Rechnung. Allerdings gelingt der Transfer vorliegender Evidenz in die Versorgungspraxis bisher nur unzureichend. Daher sollte qualitativ hochwertige Forschung zur Wirksamkeit der verfügbaren Interventionen gerade im Bereich der nicht-pharmakologischen Maßnahmen intensiviert werden.
Die Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten bei Krebspatienten haben das Bewusstsein dafür geschärft, dass für eine Wertung von Therapieergebnissen das alleinige Heranziehen von Messgrößen wie Therapieansprechen oder Lebenszeitverlängerung nicht ausreichend ist, erläutert Professor Dr. Norbert Niederle. Den schon bisher in der Onkologie erhobenen Daten zur Lebensqualität der Patienten kommt sowohl in der Primärtherapie wie auch in der palliativen Therapie ein großes Gewicht zu. Aspekte der Betreuung und der Pflege gewinnen vor allem bei Patienten mit limitierter Prognose im Vergleich zur Lebensverlängerung an Bedeutung.
In der Diskussion wies das Plenum des Frankfurter Forums darauf hin, dass das Schnüren eines multiprofessionellen Versorgungspakets für Krebspatienten oft nicht leicht falle. Das liege häufig an Strukturbrüchen der Versorgung, etwa beim Übergang von der Akutversorgung in die Rehabilitation. Angesichts der Tatsache, dass die Krebssterblichkeit in den vergangenen 25 Jahren deutlich gesunken ist, werde Fragen der Lebensqualität künftig eine noch breitere Aufmerksamkeit zukommen, zeigten sich die Teilnehmer des Forums überzeugt.
Wird die gesundheitsbezogene Lebensqualität von Patienten stärker berücksichtigt, eröffnen sich neue Chancen, Therapien und die Versorgung insgesamt zu verbessern. Der Stellenwert der gesundheitsbezogenen Lebensqualität ist Gegenstand der neuen Publikation des Frankfurter Forums im Diskurs-Heft Nr. 14. Unter dem Titel „Lebensqualitäts-Konzepte: Chancen und Grenzen“ werden Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Lebensqualitätsdaten in unterschiedlichen Kontexten des Gesundheitswesens diskutiert.
Das bisherige Modell der Medizin hat sich als Erfolgsgeschichte erwiesen, da die statistisch durchschnittliche Lebenserwartung immer noch alle fünf Jahre um etwa ein Jahr steigt. Doch gleichermaßen nimmt auch der Anteil der Patienten zu, der nicht geheilt werden kann, weil sie an chronischen Erkrankungen leiden. Vor diesem Hintergrund ist die Erhebung der von Patienten berichteten Lebensqualität ein sinnvolles Instrument, machen die Autoren im Diskurs-Heft deutlich.
Prof. Dr. Matthias Rose verweist darauf, dass die empirische Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte gemacht hat. Dies lasse erwarten, dass die Messung patienten-berichteter Merkmale in Zukunft in ähnlicher Weise erfolgen kann wie die biomedizinischer Parameter. Wichtig sei es, Messskalen zu definieren und zu validieren, um eine Übertragbarkeit der Ergebnisse zu erreichen. Sinnvoll wären Messungen, die sich „subkortikal“ interpretieren lassen, so wie die Celsius-Angabe beim Fieberthermometer.
Prof. Dr. Wolfgang Greiner erläutert, dass die Lebensqualitätsmessung in der Gesundheitsökonomie vor allem relevant ist, um Aussagen zum Nutzen einer Intervention ableiten zu können. Dabei seien für die Lebensqualitätsmessung Standards wie für jedes andere Messverfahren auch zu fordern. Die Gründe für die Ablehnung von Lebensqualitätsdaten im Kontext der frühen Nutzenbewertung neuer Arzneimittel bezeichnet der Autor als diskussionswürdig. Gründe dafür seien einerseits in der Rigidität der Erstattungs- und Bewertungsbehörden zu finden. Andererseits machten aber auch die Nutzer der entsprechenden Instrumente vermeidbare Fehler.
Prof. Josef Hecken fordert, der Lebensqualität müsse im Zuge der frühen Nutzenbewertung ein deutlich höherer Stellenwert zukommen als bisher. Er plädiert dafür, das Fehlen von belastbaren Daten zur Lebensqualität in den Dossiers pharmazeutischer Unternehmen im Rahmen des rechtlich Möglichen zu sanktionieren. Der Ansatz der Value-based-Medicine mache eine umfassende Betrachtung verschiedener Endpunkte und ihrer Bewertung im Kontext möglich. Der Autor mahnt, die Frage nach dem Patientenwohl dürfe nicht abstrakt-generell, sondern sie müsse im Einzelfall im Zusammenwirken der behandelnden Ärzte und des Patienten gestellt werden.
Dr. Ulrike Kluge erörtert mit Blick auf die gesundheitsbezogene Migrationsforschung, wie heterogen die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland ist. Dies habe Konsequenzen für epidemiologische Studien zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Denn bei der Messung von Lebensqualität sei eine Vielfalt von Variablen zu berücksichtigen. So werfe Lebensqualität als Maß für Zufriedenheit Fragen bei einer Gruppe auf, deren Lebensbedingungen oftmals kaum Teilhabe- und Partizipationsmöglichkeiten zulassen. Die Autorin regt daher an, Erhebungsinstrumente mit Blick auf diese Zielgruppe zu modifizieren.
In der Diskussion plädierte das Plenum des Frankfurter Forums für größere Anstrengungen in Wissenschaft und klinischer Forschung, Lebensqualitätsdaten in hoher Stringenz zu erheben. Nötig sei eine intensive Diskussion, nach welchen Zielparametern Therapieerfolge gemessen und anschließend Ressourcen verteilt werden sollen.
Der Preiswettbewerb ist gegenwärtig in der Gesetzlichen Krankenversicherung stark ausgeprägt, nicht aber der Qualitätswettbewerb. Dieses in vielen Facetten zu beobachtende Missverhältnis ist Gegenstand der neuen Publikation des Frankfurter Forums im Diskurs-Heft Nr. 13. Unter dem Titel „Preis- und Qualitätsorientierung im Gesundheitssystem“ nehmen fünf Autoren eine Bestandsaufnahme der zentralen Probleme vor und skizzieren Lösungsansätze aus unterschiedlichen Perspektiven.
Im Beitrag von Prof. Dr. Marion Haubitz wird die traditionelle Trennung des deutschen Gesundheitswesens in Versorgungssektoren kritisch dahingehend befragt, ob diese Struktur den Herausforderungen der Zukunft genügt – zumal vor dem Hintergrund eines absehbaren Fachkräftemangels. Aber auch mit Blick auf die demografische Entwicklung werden die Probleme insbesondere in ländlichen Regionen deutlich, Versorgungskonzepte für die Primär- bis hin zur Langzeitversorgung zu etablieren. Die Überwindung der Sektorengrenzen wäre eine zentrale Voraussetzung für einen Qualitätswettbewerb, der sich vor allem auf populationsorientierte Qualitätsindikatoren stützen sollte.
An politischen Initiativen zur Überwindung der Sektorengrenzen hat es in den vergangenen 25 Jahren nicht gefehlt, erinnert Gerhard Schulte in seinem Beitrag. Untersucht man die Gesetzgebungshistorie seit 1989, so zeigt sich, dass die Handlungsoptionen der Krankenhäuser schrittweise erweitert wurden. Dabei wurde aber versäumt, gleiche Wettbewerbsbedingungen für ambulant tätige Ärzte zu schaffen. Schritte zu einem sektorenübergreifenden Versorgungswettbewerb des Gesetzgebers wurden wiederholt konterkariert, so dass sich der fehlende Wettbewerb an der Sektorengrenze als eine Kombination aus Politik- und Systemversagen darstellt.
Vertragsärzte haben in der Vergangenheit eine ambivalente Rolle beim Wettbewerb der Krankenkassen untereinander gespielt, berichtet Dr. Manfred Richter-Reichhelm. Das galt etwa dann, wenn sie sich haben in Vertragsstrukturen einbinden lassen, deren primäres Ziel keineswegs immer eine bessere Versorgung war. Auch die Erfahrungen von Vertragsärzten aus Selektivverträgen lassen Zweifel aufkommen, ob gesetzliche Krankenkassen tatsächlich wie behauptet stets „Anwälte der Patienten“ sind. Nur wenn Kooperationen von Ärzten und Krankenkassen das unmittelbare Ziel haben, die sektorenübergreifende und populationsorientierte Versorgung zu verbessern, sind solche Kooperationen uneingeschränkt zu begrüßen.
In der stationären Versorgung in Deutschland ist der Wettbewerb in mehreren Dimensionen eingeschränkt, erläutert Karsten Honsel. So prägen beispielsweise die sich aus den Landeskrankenhausplanungen ergebenden Strukturen maßgeblich die Wettbewerbssituation der Krankenhäuser. Auch die duale Finanzierung, in deren Kontext die Häuser seit Jahren zu geringe und regional stark variierende Investitionsmittel erhalten, sorgt für Verzerrungen. Die vom Krankenhausgesetz vorgegebenen Ziele werden zwar durch die Wettbewerbseingriffe im Wesentlichen erreicht. Der hohe Anteil von Krankenhäusern mit Defiziten lässt aber erkennen, dass der gegenwärtige Finanzierungsmodus nicht nachhaltig ist.
Der Wettbewerb zwischen Leistungserbringern und der Kostendruck für die Krankenkassen haben Auswirkungen auf die Patienten – wie etwa ein wachsender Druck zur Inanspruchnahme von Selbstzahlerleistungen oder ein Innovationsstau im Leistungskatalog der GKV, da die maßgeblichen Akteure kein Interesse an seiner Ausweitung haben, schreibt Dr. Ilona Köster-Steinebach. Die vergleichsweise schwache Vertretung der Patienten im Gemeinsamen Bundesausschuss verhindert, dass die Patientenbeteiligung als ein effektiver Korrekturmechanismus wirken kann. Die fehlende Transparenz über die Leistungs- und Servicequalität der Ärzte und Krankenkassen stärkt ebenfalls die Position der Patienten und Beitragszahler nicht.
In der Diskussion zog das Plenum des Frankfurter Forums das Fazit, dass auch 20 Jahre nach dem Start des Krankenkassenwettbewerbs überzeugende ordnungspolitische Konzepte für einen flankierenden Qualitätswettbewerb noch ausstehen.
Das Frankfurter Forum für gesellschafts- und gesundheitspolitische Grundsatzfragen greift mit Heft 12 in der Reihe „Diskurse“ ein Thema auf, das auf der aktuellen gesundheitspolitischen Agenda keinen Platz mehr zu haben scheint. Unter dem Titel „Sozialstaatsgebot und Wettbewerbsorientierung“ fragen vier Autoren aus interdisziplinärer Perspektive nach dem Stellenwert und dem Verhältnis von Marktwirtschaft und Versorgungsgerechtigkeit.
Tatsächlich ist der Streit über Konzepte wie Bürgerversicherung und Gesundheitsprämie nicht mehr Teil der Tagespolitik. Beantwortet ist damit die Frage nach der Weiterentwicklung des hiesigen Mischmodells aus staatlicher Regulierung, Selbstverwaltung und Wettbewerb im Gesundheitswesen noch nicht. Wie soziale Gerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung unter den Bedingungen knapper Mittel auch künftig realisiert werden kann, ist offen.
Vorgestellt wird in dem Heft daher unter anderem ein „Ergänzungsmodell“. Das Modell orientiert sich nicht am absoluten Bedarf, sondern der Versorgungsanspruch eines Versicherten wird an der Absicherungsentscheidung eines Durchschnittsbürgers orientiert. Das Konzept sieht vor, die kollektive Gesundheitsversorgung regelmäßig um diejenigen Leistungen aufzustocken, die der Durchschnittsbürger freiwillig zusätzlich versichert. Damit, so der Autor, könne der Sozialstaat verhindern, dass ganze Bevölkerungsgruppen von der Normalversorgung abgekoppelt werden.
Da die polaren Modelle Bürgerversicherung und Gesundheitsprämie mit vielen Übergangs- Umsetzungsproblemen behaftet sind, erfährt zur Zeit die reformierte Dualität von Gesetzlichen Krankenversicherung und Privater Krankenversicherung eine Renaissance. In der Vergangenheit sind durch regulatorische Eingriffe jeweils systemfremde Eingriffe in die GKV und PKV eingeführt worden – wie beispielsweise der Basistarif in der PKV oder Wahltarife mit Selbstbehaltsoptionen in der GKV. Dennoch ist eine Konvergenz der beiden Versicherungssysteme bisher nicht erkennbar. Daher steht zumindest mittelfristig eine reformierte Dualität, in der das GKV- und PKV-System jeweils auf der Versicherungs-, Versorgungs- und Vergütungsseite weiterentwickelt werden, im Zentrum der Reformbemühungen.
In dem Maße, wie der Begriff „Wettbewerb“ in der politischen Rhetorik in der Vergangenheit inflationär bemüht wurde, ist eine konsequente ordnungspolitische Ausrichtung des Gesundheitswesens aus dem Blick geraten. Dazu gehört zentral die Idee, durch wettbewerbliche Suchprozesse die Steuerung der Versorgung zu verbessern. Die bisher mit dem Selektivvertragswettbewerb verbundenen Hoffnungen haben sich ganz überwiegend nicht erfüllt. Es wird daher ein konkreter Vorschlag erläutert, wie ein selektivvertraglicher Innovationswettbewerb ausgestaltet werden müsste. Ein kassenindividuelles Forschungs- und Entwicklungsbudget, das mit Evaluations- und Publikationspflichten einhergeht, könnte dabei einen wichtigen Anstoß liefern.
Solidarität und Wettbewerb sind nicht unvereinbare Pole der Gestaltung der Versorgung. Angesichts der Tatsache, dass aus marktwirtschaftlichen Strukturen allein keine Versorgungsgerechtigkeit hergestellt werden kann, wird die Bewahrung der normativen Grundlagen der GKV zu einem ständigen Balanceakt, war ein Resümee der Diskussionen beim 12. Frankfurter Forum.
Die neue Veröffentlichung aus der Reihe Diskurse des Frankfurter Forums „Sterbehilfe – Streit um eine gesetzliche Regelung“ erscheint zu einer Zeit, in der der Deutsche Bundestag in die heiße Phase der Beratungen über ein reformiertes Recht der Sterbehilfe und -begleitung startet. In der Publikation kommen – wie schon in Heft 10, das sich dem gleichen Problemkomplex widmet – Experten der unterschiedlichsten Disziplinen zu Wort. Beleuchtet werden Erfahrungen in der Sterbebegleitung aus theologischer Sicht ebenso wie die Desiderate der palliativen Versorgung in Deutschland. Ausführlich wird zudem die ärztliche Handlungspraxis am Lebensende aus empirischer Perspektive untersucht. In einem eigenen Beitrag wird außerdem die nicht selten medizinisch umstrittene Behandlung von Krebspatienten am Lebensende diskutiert – dies vor dem Hintergrund, dass 20 bis 50 Prozent dieser Patienten in den letzten 30 Tagen vor ihrem Tod noch zytostatisch behandelt werden. Entsprechend fragt der Autor: „Wann kann weniger mehr sein“ und diskutiert Gründe, die einer qualitativ hochwertigen, multiprofessionellen Palliativversorgung im deutschen Gesundheitssystem entgegen stehen.
Angesichts der Einsichten in die komplexen Hintergründe, die das Plenum des Frankfurter Forums auf seiner Tagung im Oktober 2014 in Fulda gewonnen hat, wurde die Diskussion über Sterbehilfe als verkürzt wahrgenommen. Bis April 2015 liegen fünf interfraktionelle Positionspapiere von Abgeordneten des Bundestags vor. Ganz überwiegend bestand unter den Teilnehmern des Forums Konsens darüber, dass der gesetzliche Status quo der Sterbehilfe in Deutschland beibehalten werden sollte. Ebenso groß war der Konsens in der Ablehnung eines der Positionspapiere, in dem die ausdrückliche gesetzliche Regelung des ärztlich assistierten Suizids befürwortet wird. Dies, so wurde argumentiert, würde zu einer Grenzverschiebung ärztlichen Handelns führen.
Das Plenum des Frankfurter Forums appellierte an alle Verantwortlichen in Politik und Gesundheitswesen, einer verkürzten Debatte über den assistierten Suizid Einhalt zu gebieten. Nötig sei zum einen eine grundsätzliche innerärztliche Selbstverständigung ohne Zeitdruck und falsche Formelkompromisse über eine ethisch fundierte Handlungspraxis bei Patienten am Lebensende. Zum anderen geboten sei die seriöse Information der breiten Öffentlichkeit über die geltende Rechtslage, zentrale Begriffe sowie Stand und Chancen der palliativen Versorgung in Deutschland.
Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung sind zwei Optionen, um Fragen der medizinischen und pflegerischen Versorgung und Behandlung in der letzten Lebensphase zu regeln. Tatsächlich sind aber viele Rechtsfragen im Zusammenhang mit der palliativen Versorgung sterbender Menschen in Deutschland ungeklärt. Dies verunsichert Betroffene, Angehörige, Ärzte und Pflegekräfte. Vor diesem Hintergrund beleuchtet Heft 10 mit dem Titel „Selbstbestimmt leben – in Würde sterben“ das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln.
Zwei Beiträge beschäftigen sich mit Rechtslage zur Sterbehilfe in Deutschland. Dabei werden aus der Sicht eines Richters auch Verfahren der Konfliktregelung im Fall unklarer Patientenverfügungen beschrieben. Weitere Autoren befassen sich mit spirituellen Fragen der Sterbebegleitung und fragen nach Qualifikationsanforderungen für Pflegekräfte, Ärzte und Seelsorger. Kritisch wird schließlich hinterfragt, inwieweit Fortschritte in der palliativen Versorgung in den vergangenen Jahren erreicht wurden – und welche Defizite weiter bestehen. Dabei gilt ein besonderer Fokus der palliativen Versorgung in ländlichen Regionen.
Das Plenum des Frankfurter Forums diskutierte alle Facetten der rechtlichen Unsicherheiten, Unzulänglichkeiten im Leistungsrecht und der Versorgungsmängel im Kontext der palliativen Versorgung. Dennoch zeigte sich das Forum zuversichtlich, dass die Ingredienzien für eine schrittweise zu verbessernde palliative Versorgung bekannt seien. Nötig sei ein Gesamtkonzept, das die multiprofessionelle Zusammenarbeit, wie sie in der hospizlichen Versorgung praktiziert wird, auch in der palliativen Versorgung Sterbender realisiert, und zwar unabhängig vom Sterbeort.
Nachdem im Diskurs-Heft 8 des Frankfurter Forums “Psychische Erkrankungen – Mythen und Fakten” eine Bestandsaufnahme von Prävalenz und Trends bei psychischen Erkrankungen erfolgt ist, gibt Heft 9 einen Überblick über Versuche, die Versorgung von psychisch erkrankten Patienten zu verbessern.
Die Autoren beschäftigen sich unter anderem mit Friktionen bei der ambulanten Versorgung, wie sie sich beispielsweise in Wartezeiten äußern und diskutieren Lösungsansätze für eine bessere Steuerung der Patienten.
Breiten Raum im Heft nehmen auch Fragen des betrieblichen Gesundheitsmanagements im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen ein, wobei die Handlungsansätze der Gewerkschaften eigens berücksichtigt werden.
Deutlich werden dabei die verschiedenen Schnittstellen zwischen dem Gesundheitsmanagement von Unternehmen und außerbetrieblichen Akteuren – eine besondere Herausforderung für kleine und mittlere Betriebe.
Die Dringlichkeit, psychisch erkrankte Versicherte frühzeitig zu beraten, zeigt sich insbesondere in der Rentenversicherung. Wiederum ist die stärkere Vernetzung der Rentenversicherungsträger mit den anderen Kooperationspartnern angezeigt, um den Grundsatz “Reha vor Rente” zu verwirklichen.
Das Diskurs-Heft des 8. Frankfurter Forums „Psychische Erkrankungen – Mythen und Fakten“ beleuchtet das weite Feld seelischer Erkrankungen aus mehreren Perspektiven. Im ersten Schritt wird versucht, zentrale Begriffsbestimmungen vorzunehmen und Trends aufzuweisen. Hier ergibt sich der auf den ersten Blick widersprüchlich scheinende Befund, dass psychische Erkrankungen als Ursache für Frühverrentungen deutlich zunehmen, daraus aber nicht umstandslos auf eine steigende Prävalenz geschlossen werden kann. Vieles spricht dafür, dass – siehe das Beispiel „Burnout“ – psychische Belastungen größere mediale Aufmerksamkeit finden als früher. Die gewachsene Nachfrage nach professioneller Hilfe hat zugleich Versorgungsengpässe in den Fokus gerückt.
Ein zweiter Schwerpunkt widmet sich psychischen Erkrankungen bei Migranten. Hierbei ist das Gesundheitswesen ein Spiegel der Diversifizierungsprozesse, die die Gesellschaft als ganze prägen. Ein weiterer Beitrag zu dem Themenkomplex zeigt am konkreten Beispiel, wie Hilfestrukturen aussehen können, die Migranten mit psychosozialen Problemen tatsächlich erreichen.
Ein dritter Schwerpunkt beschäftigt sich mit den inhärenten Defiziten des medizinisch dominierten Konzepts der Demenz. Plädiert wird in dem Beitrag dafür, Demenzen als ein Beziehungsgeschehen zu interpretieren. Eine Auffassung, die weitreichende Konsequenzen für Begleitung, Pflege und Betreuung dementer Menschen hat.
Angesichts der bislang begrenzt erfolgreichen Diagnosetest- und Arzneimittel-Innovationen bei den sogenannten „Targeted Therapies“ stellt sich die Frage, ob die großen öffentlichen und privaten Forschungsressourcen, die die Industrie in diesem Feld investiert, richtig eingesetzt sind. Insgesamt ist die zielgerichtete Krebstherapie von wenigen Ausnahmen abgesehen noch Utopie, Patienten werden wie bisher nach dem Verfahren von „Trial and Error“ behandelt. Vor diesem Hintergrund müssen angemessene Versorgungsstrukturen und -prozesse für den verantwortlichen Einsatz von „Targeted Therapies“ auf verschiedenen Ebenen erst noch geschaffen werden. Die Biomarker-Entwicklung hat sich bisher primär am technisch Möglichen orientiert. Das prospektive Potenzial der stratifizierenden Medizin kann sich aber nur dann entfalten, wenn sich die Forschung am tatsächlichen Versorgungsbedarf einer alternden Gesellschaft orientiert.
Die medizinischen Möglichkeiten, die sich mit dem Konzept der individualisierten Medizin verbinden, verheißen Fortschritte in der Behandlung von Patienten. Doch die rechtlichen, ökonomischen und ethischen Implikationen des Einsatzes der individualisierten Medizin können nur im Einzelfall bewertet werden, weil sich ihr Nutzenpotenzial gegenwärtig nicht abschließend abschätzen lässt. Der gegenwärtige Stand der individualisierten Medizin stellt eine aufgestoßene Tür zu neuen Erkenntnissen dar, die die Medizin in einigen Teilen verändern wird. Ob daraus eine medizinische Revolution wird, bleibt abzuwarten.
Die Herausforderungen einer angemessenen Versorgung in der alternden Gesellschaft sind bekannt, doch wir sind weder personell noch strukturell in Deutschland so gut aufgestellt, dass wir die anstehenden Probleme mit den bekannten “Bordmitteln” lösen könnten. Es gibt Insellösungen und Leuchtturmprojekte. Doch was fehlt, sind flächendeckende Versorgungskonzepte. Case-Management-Projekte der Krankenkassen haben zudem immer wieder gezeigt, dass nicht allein die ärztliche Versorgung eine Determinante für den Erfolg ist, sondern gleichermaßen die pflegerische Versorgung sowie psychosoziale Faktoren entscheidend sind. Es fehlt nicht an Konzepten für eine maßgeschneiderte Versorgung, aber es fehlt an „Maßschneidern“, die die Verantwortung für eine populationsorientierte Versorgung übernehmen könnten.